1. Mit oder ohne Geist?
Vor etwa 2000 Jahren schrieb der römische Dichter Ovid ein Lehrgedicht über Liebeskunst, das auch heute noch in lateinischer wie deutscher Sprache von mehreren Verlagen vertrieben wird. Sicher ist dies auch der Tatsache zu verdanken, dass dieses Werk oft Lektüre im Lateinunterricht ist, aber auch außerhalb von diesem findet diese Dichtung noch viele Leser. Wohl liegt das an deren Titel, welcher dem Rezipienten Lust verspricht, als auch an der Attraktivität der Gattung, der es gemeinhin zugeordnet wird … nämlich den Ratgebern.
Liebesratgeber sind in doppelter Hinsicht dem Lustsucher Mensch genehm. Auf die Begrifflichkeiten von Sigmund Freud gebracht, ersparen sie einem sowohl den Aufwand des eigenen Nachdenkens als auch den Aufwand zur Unterdrückung sexueller Triebregungen. Als Preis hierfür ist ihr geringer kognitiver Wert hinzunehmen, der bei einem Liebesratgeber eben auch eine Folge des Umstandes ist, dass die Überkomplexität menschlicher Beziehungen weder auf bestimmte Begriffe noch auf gewisse Kausalitäten zu bringen ist … und das bei einem so diffusen Phänomen wie dem der Liebe.1
Liebesratgeber verfügen also meistens nicht über die Merkmale anspruchsvoller Literatur, weil sie wenig zu denken geben und durch die das eigentliche Phänomen entstellende Vereinfachung von nur geringem Erkenntnisgewinn sind. Sie sind damit eher der Massenkultur als der Hochkultur zuzurechnen.
2. Wo ist der Geist zu finden?
Was meinen wir eigentlich, wenn wir ein dichterisches Werk – Ovids Text versteht sich offensichtlich auch als solches – für „geistvoll“ halten? Hierauf gibt Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ eine hinlängliche Antwort: Für ihn ist Geist „ … das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; …“.2 Unter einer ästhetischen Idee versteht er „ … diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht …“3 In Anlehnung an Kant und unter Weglassung seiner Ausführungen über das Genie sowie über das allgemeine Wohlgefallen können wir einen geistvollen Liebesratgeber wie folgt definieren: Ein solcher ist geistreich, wenn seine Darstellung im Vorfeld treffsicher reflektiert ist, einen Gedankenreichtum provoziert und somit belebend auf unsere intellektuelle Weltwahrnehmung wirkt.
Da Liebe – wie bereits besprochen – weder durch Begriffe noch durch die Identifizierung einzelner Kausalitäten erfassbar ist, kann der Leser von Ovid eine ästhetische Idee erhoffen, zumindest dann, wenn er eine gewinnbringende Lektüre erwartet. Und diese ästhetische Idee muss sich in den mythologischen Erzählungen der „Ars amatoria“ befinden, denn nur dort wird der Leser gezwungen, den Text nicht überwiegend referentiell zu lesen,4 denn die ästhetische Idee ist notwendigerweise der mythologischen Erzählung inhärent, da sie sich nur in einer Struktur der offenen und nicht definitiven Verweise als ästhetische Idee im Sinne Kants konstituieren kann. Somit erzwingt der Text zumeist eine nichtreferentielle Lesart. Auf diesem Weg kann man zu einer großen Zahl von Ideen kommen, die anschließend im Kontext großer Denksysteme fundiert werden können.
Im Folgenden soll nun untersucht werden, ob die Erzählung von Ariadne und Bacchus, die man im ersten Buch der „Ars amatoria“ findet (V. 525 bis 568), sinnvoll als ästhetische Idee interpretiert werden kann und folglich, ob sie zu Recht als ein Zeugnis der Hochkultur gilt.
3. Das archaische Denkmuster im Mythos
Bereits bei einer ersten Annäherung an die Erzählung sind die Merkmale archaischer Denkmuster unübersehbar, d.h. eines Denkens, welches stark vom Unterbewusstsein geprägt ist.5 So ist der Plot emotional stark verdichtet. Ariadne erwacht auf der einzig von ihr bewohnten Insel mit aufgegürteter Tunika aus dem Schlaf [„Utque erat e somno tunica velata recincta, …“ (V. 529)]. Hierbei ist noch zu bedenken, dass die Tunika bei Römerinnen ohnehin nur Unterwäsche war. Zwar sind Sinnzusammenhänge in Texten nie eindeutig, aber der Verweis auf eine sexuelle Handlung Ariadnes ist doch zumindest naheliegend. Und sexuelle Konnotationen sind wohl auch bei den folgenden im Text genannten Attributen Ariadnes festzustellen: offene blonde Haare [„… croceas inreligata comas, …“ (V. 530)],6 liebliche Wangen [„… teneras … genas.“ (V. 532)] und die Vollbusigkeit [„… mollissima pectora …“ (V. 535)].7 Zum Kontext der emotionalen Verdichtung gehört auch, dass sie bei der lautstarken Ankunft des Gottes aus Furcht in Ohnmacht fällt [„Excidit illa metu …“ (V. 539)], sie etwas später erbleicht und ihre Stimme verliert [„Et color … et vox abiere puellae; …“ (V. 551)], sie dreimal fliehen will und die Furcht sie dreimal zurückhält [„… terque fugam petiit, terque retenta metu est.“ (V. 552)] und sie erschaudert und zittert [„Horruit … tremit.“ (V. 553 f.)]. Neben diesen emotionalen Verdichtungen lassen sich auch begriffliche Verdichtungen ausmachen, deren wichtigste die des Bacchus ist, der in dieser Erzählung als Sammelperson auftritt, worauf Ovid auch selbst hinweist.8 Denn er führt den Gott nicht als Bacchus ein, was das Versmaß durchaus zugelassen hätte, da die erste Silbe von Bacchus zwar nicht naturlang, aber positionslang ist, sondern unter dem Begriff „Liber“. Am Ende des Plots bezeichnet er ihn dann als Nyctelius pater, also Vater der Nacht.9 Dass er auch noch mit einem griechischen Beinamen angesprochen wird (V. 563) und auch Ariadne in unterschiedlichen Begrifflichkeiten auftaucht, wird im weiteren vernachlässigt, bestätigt aber die oben getroffene Annahme archaischer Denkmuster.
Ebenfalls dem archaischen Denken zuzurechnen sind einige nur schwer nachvollziehbare Zusammenhänge der Erzählung. Warum beschreibt der Autor Ariadne als sexuell begehrend und begehrlich, obgleich dies – dem logischen Denken gemäß – für eine einsame Frau, die allein auf einer Insel zurückgelassenen wird, nicht bedeutend sein dürfte? Oder anders formuliert: In einer solchen Situation hat man wohl andere Probleme, zumal sie ja gar nicht ahnt, dass sich ein männliches Wesen der Insel nähert, denn sie nimmt die Ankunft des Bacchus mit großem Schrecken wahr. Warum heiraten Ariadne und der Gott, obwohl Hochzeiten die Sozialisation von Liebe sind, d.h. ein Kompromiss zwischen Liebenden und menschlichem Umfeld? Letzteres ist aber nur sehr diffus gezeichnet und obendrein dem erhabenen Bacchus völlig untergeordnet. Dieses ist nur erklärbar, wenn man den Widerstreit der Omnipräsenz sexuellen Verlangens und der Omnipräsenz zivilisatorischer Regeln nicht nur figurativ, sondern auch textuell begreift. Sowohl die Figuren als auch der Text (Autor) sind von diesen Determiniertheiten bestimmt. Die Hochzeit ist deshalb für die Seelenhygiene ein notwendiger – wenn auch absurder – Kompromiss.
Diese Beispiele sind wohl ausreichend, um zu zeigen, dass der Text noch nicht nennenswert von logisch-diskursivem Denken überformt ist, zumal noch ein anderes Merkmal darauf hinweist. Man findet in ihm fast keine Konnektoren, die folgern oder begründen, wie z.B. enim, itaque, quia, quare etc. Dieser Umstand lässt vermuten, dass der Plot nicht von inneren Assoziationen, wie z.B. Kausalität, zusammengehalten wird, sondern von äußeren, wie z.B. Gleichzeitigkeit oder räumliche Kontiguität.10 Beweggründe für Handlungen können lediglich aus dem Triebleben der Figuren konstruiert werden, die Kontextbildung ist also fast ausschließlich unbewusst-triebhaft. Für die Interpretation des Textes hat das natürlich schwerwiegende Konsequenzen. Reflektierte und damit kontrollierte Handlungsabsichten können den Figuren kaum unterstellt werden, das Unterbewusste ist der entscheidende Movens im Plot. Und das zu erfassen ist für einen heutigen Leser oder Übersetzer nicht einfach, weil er sich in einem anderen Moral- und Denksystem befindet. Veranschaulichen läßt sich dies am Vers 564. Dieser lautet im lateinischen Original: „Sic coeunt sacro nupta deusque toro.“. Vor allem die Begriffe „coire“ und „sacer torus“ machen es dem Übersetzer schwer, da ihr Sinn nur über den weiteren Kontext zu erschließen ist. Auch in der deutschen Sprache kann das Wort „zusammengehen“ bzw. „sich vereinigen“ auf verschiedene Dinge verweisen. Aber ausgehend von der Struktur des archaischen Denkens – die sich in der Erzählung ja abbildet – kann die Übersetzung sinngemäß etwa wie folgt lauten: So vollziehen Braut und Gott auf geheiligtem Polster den Geschlechtsakt.11 Naheliegend ist es natürlich „den Geschlechtsakt“ durch „die Ehe“ zu ersetzen, doch der Umweg über das Wort „Ehe“, welches auf den Geschlechtsakt verweisen kann (Metonymie), würde eine Gedankenverschiebung darstellen, die in ihrer Wirkung eine Zensur ist. Ein Beispiel für eine durch unbewusste Zensur bestimmte Übersetzung ist die von Wilhelm Hertzberg: „Und der geheiligte Pfühl einet den Gott und die Braut“12 Für eine kognitiv ertragreiche Interpretation ist es aber notwendig, eine möglichst unverzerrte Übersetzung anzufertigen, was natürlich eine kritische Reflektion des eigenen Rezeptionsverhaltens und der gegebenen Diskursregeln voraussetzt.
Abschließend sei noch kurz auf die einfach gefügte Figuration des Plots, welche eine traumähnliche Konfiguration aufweist,13 und die bildhafte Sprache, die zum mehrmaligen Gebrauch des demonstrativen Partikels „ecce“ (schau) führt, hingewiesen. Eine ausführliche Darstellung dieser beiden Elemente archaischen Denkens ist nicht mehr notwendig, da der Zweck dieses Kapitels erfüllt ist, nämlich zu zeigen, dass die mythologische Erzählung eine archaische Struktur hat und noch nicht von rational-diskursivem Denken überformt ist, welches differenziert, kritisiert, analysiert sowie zwischen natürlichen und kulturellen Belangen wie Trieb und Moral vermittelt. Sie ermöglicht uns also einen fast unverstellten Blick auf das archaische und überkomplexe Phänomen „Liebe“, ganz in dem Sinne der Sentenzen „In vino veritas“ oder „Kinder und Narren sagen die Wahrheit“. Hier wird nicht für den Leser gedacht, sondern das Denken des Rezipienten angeregt, welches dann die Aufgabe hat, durch Verknüpfungen neue Kontexte zu erschließen.
4. Gottesliebe
Der soziale Raum, in dem das Liebesverhältnis zwischen Ariadne und Bacchus stattfindet, ist schnell als Fiktion zu identifizieren.14 Es fehlt weitgehend die moralische Determinierung der Liebesbeziehung.15 Auch im antiken Rom der frühen Kaiserzeit konnte man sich keiner Frau und keinem Mann in Liebe verbinden, ohne dass man vorher den sozialen Raum erobert hat, der dies auch zulässt. Liebesbeziehungen sind also – zumindest in entwickelten Kulturen – das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Gefühl und Vernunft bzw. Liebenden und Gesellschaft. Liebe schafft folglich keinesfalls einen Intimraum der Freiheit, sondern höchstenfalls einen mit partialen Befreiungen.16 Dennoch ist die Sehnsucht nach Freiheit zur Trieberfüllung eine wesentliche Dimension der Liebe und diese Sehnsucht wird in der mythologischen Erzählung Ovids erfüllt. Diese Erfüllung bleibt allerdings in der nichtmythischen Wirklichkeit Illusion. Der Mythos erweist sich somit als notwendig.
Fast immer beginnen Liebesverhältnisse mit Versprechungen und der erfolgreiche Liebhaber muss daher ein Träger wirksamer Versprechen sein; von Versprechen, die Hoffnung auf Befreiung machen, z.B. von den Anstrengungen der Triebhemmung oder von der Last der Einsamkeit. Der erste Satz der Erzählung führt Bacchus deshalb unter seinem Beinamen „Liber“ (Befreier, Erlöser) ein und zwar nicht im christlichen Sinne als ein Erlöser von Sünden, sondern – wie die folgenden Verse zeigen – genau umgekehrt. Gleichzeitig verweist „Liber“ auf „deus“, denn Bacchus ist schließlich der Gott des Weins und der Fruchtbarkeit,17 in dessen Gefolge getanzt, gefeiert und Wein im Übermaß getrunken wird. Sich betrinken, tanzen und ekstatisch feiern sind entgrenzende Handlungen, sie befreien von den Anstrengungen der Bewegungskontrolle und der Triebhemmung durch Normen. Gerhard Fink erwähnt in seinem „Who´s who in der antiken Mythologie“, dass es zur Zeit der römischen Republik nächtliche Bacchusfeste gab, in „ … denen es angeblich zu sexuellen Ausschweifungen und Ritualmorden kam, …“,18 die erst durch das „Senatus consultum de Bacchanalibus“ (Senatsbeschluss über die Bacchanalien) im Jahr 186 v. Chr. gewaltsam eingedämmt wurden.19 Wir können also davon ausgehen, dass in der Vorstellung von Bacchus auch ein Verweis auf sexuelle Entgrenzung enthalten war. Doch auch hier nur in der Form eines Versprechens, d.h. der Gott, welcher ohnehin gegenüber den Begrenzungen des Menschen erhaben ist, schenkt diesem mannigfache Befreiungen. Bacchus wird in der Erzählung als Erfüller der Wünsche Ariadnes und seines Gefolges gezeichnet, was ihn zu einer Figur macht, deren Nähe man sucht, zu der man folglich gerne Distanz aufgibt. Nicht ohne Grund war Bacchus bzw. Dionysos in der Antike ein ausgesprochen beliebter Gott.20 Die Erdichtung von Wunscherfüllern ist in Texten, Filmen etc., die dem archaischen Denken nahestehen, häufig, man denke nur an Engel und Feen in Märchen oder an eine sehr populäre Filmfigur wie Bud Spencer, die als Wunscherfüller bezüglich der Vernichtung des Bösen konstruiert wurde. Und ein Wunscherfüller muss immer souverän und kontrolliert auftreten, er hat ja nicht seine eigenen, sondern die Wünsche anderer zu erfüllen. Dass Silenus in dieser Hinsicht die Antifigur des Bacchus ist,21 lässt sich bereits ihrer unterschiedlichen Einführung in den Text entnehmen, die bei Silenus so erfolgt: Schau, ein betrunkener Greis: Silenus kann sich kaum auf seinem gekrümmten Esel halten und umklammert vorn die dunkle Mähne. [„… ebrius, ecce, senex: pando Silenus asello vix sedet et pressas continet ante iubas.“ (V. 543 f.)]. Bei Bacchus hingegen: Schon erschien der Gott in seinem Wagen, welcher bis in den hintersten Winkel von Weinreben umrankt war und gab den vorgespannten Tigern die goldenen Zügel. [„Iam deus in curru, quem summum texerat uvis, tigribus adiunctis aurea lora dabat: …“ (V. 549 f.)]. Silenus ist fixiert auf die Zwänge der eigenen Sucht, ohne souveräne Erhabenheit und weitgehend ohne Selbstkontrolle. Die Bacchantinnen empfinden ihn daher nicht als Objekt, das ihrer Affirmation wert wäre, sondern als ein Objekt der aggressiven Lust an der Erniedrigung (V. 545). Zwar ist Silenus damit auch ein Wunscherfüller, aber eben nur ein Erfüller von aggressiven Wünschen, was ihm natürlich schadet und nicht nützt. Bacchus hingegen ist ein Wunscherfüller, der durch seine Versprechen und Taten die Affirmation der eigenen Person erzeugt, was z.B. an der Hingabe der Ariadne zu ersehen ist, denn einem Mann kann kaum eine größere Affirmation widerfahren als die hingebungsvolle Zuneigung einer attraktiven Frau (V. 564). Und es kann kein Mensch – und wohl auch kein Gott – geliebt werden, ohne angenommen worden zu sein. Liebe ist eben wesentlich Affirmation und dieser Kontext kann nicht hintergangen werden.
Abschließend bleibt noch die Frage zu klären, warum in der Erzählung ein Gott der „Liber“ Ariadnes ist? Hierfür gibt es wohl zwei Motivationen. Zum einen lässt sich aus einem Gott viel besser der Idealtyp22 eines Affirmation23 erzeugenden Wunscherfüllers konstruieren, weil ein göttliches Wesen jenseits menschlicher Begrenzungen steht und damit a priori in ganz außergewöhnlicher Weise Erhabenheit und Kontrolle verkörpert. Die Verstirnung kann eben nur ein Gott versprechen (V. 557). Zum anderen wirft der Umstand, dass ein Gott von überwältigender Attraktivität der Verführer ist (V. 561), ein – im moralischen Sinne – milderes Licht auf das Verhalten Ariadnes.24 Denn sie war nicht (mehr) stark genug, um sich zu wehren … [„… – neque enim pugnare valebat – …“ (V. 561)]. Bei so einem Verehrer ist die Reaktion Ariadnes für den Leser kaum (moralisch) irritierend. Ariadne bleibt folglich als Identifikationsfigur attraktiv.
Die Liebe eines Menschen zu einem Gott ist wohl eine ursprüngliche und intensive Form der Zuneigung. Sie ist wahrscheinlich aus den existentiellen Notlagen entstanden, denen die frühen Menschen häufig ausgesetzt waren. Diese motivierten sie, ein transzendentes Wesen anzurufen, das Schutz und Hilfe versprach.25 Die starke Affirmation in der Gottesliebe korreliert also mit der starken Abhängigkeit vom Wunscherfüller, dessen Zuneigung ein großes Privileg ist und mit großen Opfern erkämpft werden muss. Vermutlich spielt der Text mit der noch im Unterbewusstsein des Lesers vorhandenen archaischen Vorstellung.
5. Exemplum, Antiexemplum oder ästhetische Idee?
Marion Steudel stellt in ihrer Dissertation „Die Literaturparodie in Ovids „Ars Amatoria“ als Schlussfolgerung diese bemerkenswerte These auf: „Dabei konnten wir feststellen, daß die mythologischen exempla in der ARS AMATORIA ihre Aufgabe als ernsthaftes Argumentations- und Darstellungsmittel im Sinne der Lehrdichtung, … , ganz sicher nicht erfüllen.“26 Und als Begründung führt sie – unter anderem – an, dass die Protagonisten in den mythologischen Erzählungen „auf die banale erotische Ebene herabgedrückt“ und „der Komik preisgegeben werden“.27 Ist die vorliegende mythologische Erzählung über Ariadne und Bacchus tatsächlich ein Exemplum im Sinne Steudels? Dagegen spricht die weitgehende Abwesenheit begründender bzw. folgernder Konnektoren, die sich aus dem in diesem Text fehlenden Überbau rational-diskursiven Denkens ergibt.28 Von einem Argumentationsmittel kann also kaum die Rede sein. Und wer in dieser Geschichte lediglich ein Darstellungsmittel sieht, welches verdeutlicht, was zum Teil ohnehin schon gesagt wurde,29 der unterschätzt ihren kognitiven Wert erheblich und übersieht, dass eine mythologische Erzählung mit ihrem archaischen Denksystem mehr codiert als offenlegt. Dies kann zu keiner überzeugenden Interpretation führen. Dabei ist Steudel mit ihrer Zuschreibung des Komischen gar nicht weit von der grundlegenden Struktur eines Mythos entfernt, doch reflektiert sie den Begriff der Komik nicht und kommt so den mythologischen Texten Ovids vermutlich nicht auf die Spur. Zumindest was den Ariadne-Mythos betrifft, kann ich auf keinen Fall die Behauptung Steudels bestätigen, dass die „mythologischen exempla“ ihre Funktion „ganz sicher nicht erfüllen“. Und das liegt überwiegend an einer anderen Funktionszuschreibung, nämlich die der ästhetischen Idee, welche aber nur dann zu vielen Gedanken veranlasst, wenn sie – zumindest in einem ersten Schritt – frei betrachtet wird, d.h frei vom Zwang zu bestimmten Begriffen und zu einer bestimmten Erkenntnis.30 Für die Thesenfindung ist also Freiheit notwendig, ihre Überprüfung erfolgt dann – im Rahmen des Möglichen – diskursiv nach den strengen Regeln des Verstandes.31 Obendrein hat die Betrachtung einer ästhetischen Idee den Vorteil, dass sie einen Bedarf zur Wissensschöpfung signalisiert und damit der Neugierde, dem Trieb nach Bestätigung und dem Selbstbehauptungswillen des Individuums entgegenkommt. Kurzum: Die Betrachtung einer ästhetischen Idee ist ein kognitiver Akt der Wunscherfüllung aus der Sache selbst. Ein Exemplum hingegen zeigt ein Muster oder verdeutlicht, es erzeugt beim Leser keinen großen Bedarf zur Wissensschöpfung, weil der Erkenntnisprozess hier stärker determiniert erscheint, denn das Exemplum steht üblicherweise nicht für sich, sondern ist ein Muster für etwas oder es verdeutlicht etwas.
Auch Konrad Heldmann erkennt in dem von Ovid gestalteten Ariadne-Mythos ein Exemplum, jedoch im Sinne eines Antiexemplums.32 Dies ist eine interessante Sichtweise, da ja tatsächlich – aus Gründen, die ich weiter oben dargelegt habe – die Notwendigkeit besteht, den Leser zu einer Reflektion über den eigentlichen Liebesratgeber zu motivieren. Leider kann die Begründung seiner These nicht überzeugen. Die beruht nämlich darauf, dass er den Inhalt von Vers 561 und 562 als Vergewaltigung interpretiert.33 Betrachtet man nur die beiden Verse für sich, erscheint dies als eine Deutungsmöglichkeit durchaus plausibel, zumal dann, wenn man hier einen Euphemismus unterstellt. Betrachtet man diese Verse jedoch im Zusammenhang des gesamten Textes, dann kann man zu dieser Auslegung nicht kommen. Denn eine Vergewaltigung würde Bacchus zum Versager machen und Ariadne zum Opfer, das man zwar bemitleidet, aber nicht mehr bewundert. Eine solche Demütigung macht jedoch im Kontext der Erzählung wenig Sinn. Warum sollte ein Gott, der eine Verstirnung schenken kann (V. 557), der mit großem Gefolge machtvoll und erhaben auftritt (V. 549 f.), der als Lustspender schlechthin gilt, eine Königstochter vergewaltigen, die einsam ist und selbst sexuelle Lust verspürt (V. 529)? Ariadne wird bereits zu Beginn des Textes als Begehrende eingeführt und als solche auch beschrieben (V.529 f., V. 536 f.). Die Erzählung verweist auf Bacchus als Wunscherfüller, zwar im Sinne eines Machos, der schnell durch sein überwältigendes Auftreten die für die Liebe notwendige Nähe schaffen kann, aber sie verweist nicht auf einen Vergewaltiger. Und nur bei einem Bacchus als erfolgreichem Wunscherfüller, macht Silenus als Antifigur Sinn. „… – neque enim pugnare valebat – …“ (V. 561) ist wohl sinngemäß wie folgt zu übersetzen: Denn sie war nicht (mehr) stark genug, um sich zu wehren (, weil sie zu heftig begehrte). Der von mir angehängte Kausalsatz ist natürlich Spekulation, wie auch die von Heldmann vorgenommenen Ergänzungen Spekulation sind. Der Satz macht viele Verweise möglich und zwingt den Leser zu einer freien Deutung, die aber innerhalb der Textlogik plausibel sein muss.
Ovids mythologische Erzählung über Ariadne und Bacchus lässt sich auf viele Weisen lesen. Doch bedient ihre Betrachtung als ästhetische Idee am besten das Erkenntnisinteresse des Lesers. Dessen Einbildungskraft (Phantasie) kann durch sie angeregt werden und ihm viel zu denken geben, z.B. über die Ursachen, die den Liebessuchenden zu einem Erfüller aggressiver anstelle der erstrebten affirmativen Wünsche macht oder über die Voraussetzungen für die Herstellung der für ein Liebesverhältnis notwendigen Distanzlosigkeit. Im Gegensatz zur Betrachtung als Exemplum oder Antiexemplum schränkt die Deutung als ästhetische Idee den Mythos funktional kaum ein, d.h. der Leser betrachtet ihn von vornherein aus einem größeren Blickwinkel. Allerdings muss man einräumen, dass Ovid ab dem Vers 565 seine ästhetische Idee bricht. Er zieht dort aus der mythologischen Erzählung das folgende Resümee: Also, sobald die Gaben des Bacchus dir zuteil werden und eine Frau mit dir zusammen auf der gleichen Liege ist, bitte (dann) den Bacchus und die (von ihm geweihten) Gaben der Nacht, dass es nicht ihr Wille ist, deinem Kopf durch Wein zu schaden.34 Zuerst einmal ist festzustellen, dass Ovid hier mit dem einleitenden Begriff „ergo“ (deshalb, also) ausnahmsweise einen begründenden bzw. folgernden Konnektor verwendet, um diesen Abschnitt und die darauf folgenden Verse35 als Fazit zu kennzeichnen. Beachtet man jedoch Struktur und Kontext der Erzählung, so macht es Sinnn, dieses – erst einmal losgelöst vom Mythos – als Scheinfazit zu lesen, denn zum einen zerstört das Fazit die ästhetische Idee, die ja umfänglich zu eigenen Gedanken anregen soll, und zum anderen stellt es eine Vereinfachung dar, die dem Erkenntnisinteresse des (heutigen) Lesers nicht entgegenkommt. Hat man erst einmal sein eigenes Resümee gezogen, so kann man es mit dem des Textes immer noch vergleichen und auf diese Weise zu weiteren Kenntnissen gelangen. Natürlich ist es bedenklich, etwas getrennt zu lesen, was offensichtlich zusammengehört. Aber ein Text, der die Darstellung seiner eigenen (guten) Idee bricht, indem er in der Form eines Resümees auf bestimmte Zusammenhänge bringt, was eigentlich gar nicht auf bestimmte Zusammenhänge gebracht werden kann,36 weil man dann die Erkenntnislust und das Erkenntnispotential des Leser beschneidet, nötigt den Rezipienten gegen die Offensichtlichkeit zu lesen. Das durch einen folgernden Konnektor (V. 565) verbundene Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Texttypen, die jeweils eine eigene Lesart erfordern und die sich antagonistisch gegenüberstehen,37 ist nicht schlüssig. Darum können auch die verschiedenen Deutungsmuster (Exemplum, Antiexemplum und ästhetische Idee) nicht stringent sein. Doch fördert die mythologische Erzählung die Reflexionsbereitschaft des Lesers am meisten, wenn man sie als ästhetische Idee liest. Dann wird dieser Liebesratgeber zu „geistvoller Hochkultur“, um die es sich zu ringen lohnt.
Anmerkungsapparat:
1 Jeder gefundene Begriff und jede entdeckte Kausalität haben unendlich viele Verweise.
2 Kant, § 49, S. 249. Ich folge bei dieser kritischen Textausgabe den Entscheidungen des Herausgebers Wilhelm Weischedel.
3 Kant, § 49, S. 249 f.
4 Dies bedeutet: nicht auf konkrete Gegenstände, Personen oder Zusammenhänge bezogen.
5 Vgl. Türcke, S. 15.
6 Blonde Perücken und das Blondfärben der Haare war bei Römerinnen beliebt, wohl weil man sich damit sexuell attraktiv wähnte. Vgl. Krefeld (Hg.), S. 223.
7 Über den Einfluss des Unbewussten in der Kunst reflektiert Marc Reichardt, auf: http://www.delitzscher-symposion.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11:arnold-boecklins-toteninsel-in-psychoanalytischer-interpretation&catid=2:kunst&Itemid=2, zugegriffen am 7.1.2012.
8 Das Phänomen der Sammelperson wird erklärt in: Freud, Traumdeutung, S. 298 f.
9 Vgl. Henneböhl (Hg.), S. 53.
10 Die Begriffe innere und äußere Assoziation habe ich entnommen aus: Freud, Witz, S. 185.
11 Das in der deutschen Sprache geläufige Fremdwort „Koitus“ leitet sich vom lateinischen coire ab.
12 Ovid/Hertzberg (Übersetzer), S. 27.
13 Begehrende (Ariadne), Wunscherfüller (Bacchus), Erfüller aggressiver Wünsche (Silenus) und Wunschverweigerer (Theseus). Vgl. auch: Freud, Traumdeutung, S. 327.
14 Dieser Satz schließt nicht aus, dass man jeden Text für fiktiv hält.
15 Lediglich bei der Anrufung des Hochzeitsgottes Hymenaeus im Vers 563 kann man von der Andeutung einer konventionellen Einhegung sprechen.
16 Vgl. hierzu das Bild „Der Kuss“ von Gustav Klimt.
17 Vgl. Fink, S. 92.
18 Fink, S. 93.
19 Vgl. zum Bacchanalienskandal: Titus Livius, Ab urbe condita, Buch 39, 8–19.
20 Vgl. Fink, S. 93.
21 Silenus ist aber keine Karikatur des Bacchus, wie Julia Wildberger behauptet, denn diese Figur ist von Ovid nicht als Kritik an Bacchus gezeichnet worden. Vgl. Wildberger, S. 131. Unter einer Karikatur versteht man üblicherweise einen Witz mit aggressiver Tendenz, der Kritik übt.
22 Idealtyp ist eine Form der Verdichtung.
23 D.h. in diesem Zusammenhang Liebe.
24 Hier liegt aber keine moralische Determinierung der Liebesbeziehung vor.
25 Den Impuls für diesen Gedanken habe ich entnommen aus: Türcke, S. 170 ff.
26 Steudel, S. 164.
27 Steudel, S. 165.
28 Vom Fazit des Autors abgesehen (V. 565).
29 Steudel spricht auch von einer Illustrationsfunktion der mythologischen Erzählung: „Je näher sich das Beispiel und die Sache, die es zu belegen oder illustrieren gilt, sind, desto treffender ist das exemplum.“ Steudel, S. 164.
30 Vgl. Kant, S. 132.
31 Hier gibt es natürlich viele Wege: Intersubjektive oder objektive Wahrheit, deduktive oder induktive Erklärung (bis hin zur Plausibilität) etc.
32 Vgl. Heldmann, S. 58.
33 Vgl. Heldmann, S. 59.
34 Eigene Übersetzung.
35 Auch über den Vers 568 hinaus.
36 Aus gutem Grund interpretieren nur sehr wenige Kunstmaler, Dichter oder Romanciers ihre eigenen Werke.
37 Archaisches Denkmuster versus rational-diskursivem.
Diese Arbeit entstand auf der folgenden Textgrundlage:
P. Ovidi Nasonis: Amores, Medicamina faciei feminae, Ars amatoria, Remedia amoris, herausgegeben von Edward John Kenney, Oxford 1995.
Ovid: Ars amatoria, herausgegeben von Rudolf Henneböhl, Bad Driburg 2010.
Aus der folgenden Sekundärliteratur wurde wörtlich oder sinngemäß zitiert:
Fink, Gerhard: Who´s who in der antiken Mythologie, München 2010 (16. Auflage).
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Frankfurt (Main) 2004 (7. Auflage).
Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt (Main) 2000 (10. Auflage).
Heldmann, Konrad: Dichtkunst oder Liebeskunst? Die mythologischen Erzählungen in Ovids Ars amatoria, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Jahrgang 2001, Nr. 5.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt (Main) 1974, herausgegeben von Wilhelm Weischedel.
Publius Ovidius Naso: Liebeskunst, übersetzt von Wilhelm Hertzberg, Frankfurt (Main) 1976.
Reichardt, Marc: Arnold Böcklins Toteninsel in psychoanalytischer Interpretation, auf: www.delitzscher-symposion.de.
Res Romanae, Berlin 2009 (2. Auflage), herausgegeben von Heinrich Krefeld.
Steudel, Marion: Die Literaturparodie in Ovids Ars Amatoria, Hildesheim/Zürich/New York 1992.
Wildberger, Julia: Ovids Schule der „elegischen“ Liebe: Erotodidaxe und Psychagogie in der „Ars amatoria“, Frankfurt (Main) 1998.
Türcke, Christoph: Philosophie des Traums, München 2008.