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Arnold Böcklins Toteninsel in psychoanalytischer Interpretation

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Die Toteninsel (Urversion)

1. Die Bedeutung des Unbewußten

Die Entdeckung des Unbewußten war neben der kopernikanischen Wende, der Philosophie der Aufklärung und der Evolutionstheorie Darwins die letzte und für das vergangene Jahrhundert wirkmächtigste Idee, die die Moderne prägte. Erkenntnisse, daß der Mensch weder Zentrum der Welt, noch außeranimalischen Ursprungs, ja nicht einmal in seinem Bewußtsein autonom ist, bedeuteten einen grundsätzlichen Zweifel an der über Jahrhunderte hin tradierten Selbstverortung des Menschen, der somit nahezu jegliche Gewißheit hinsichtlich menschlichen Denkens und Handelns in Frage stellte.

Das Bonmot Freuds, der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus, findet heute in allen Diziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften seinen Niederschlag. Die Tatsache, daß das Ich keinesfalls autark noch sich seiner eigentlichen Trieb- und Prägkräfte bewußt ist, damit also das Bewußtsein als eine sich nur selbst affirmierende Illusion identifiziert werden kann, bedeutet nichts weniger, als die Behauptung ständig anwesender überindividueller Determinanten, die menschliches Tun außerhalb des Bewußtseins beeinflussen. Die Trieb- und Prägkräfte sind also in jedweder menschlichen Handlung wirksam und müssen somit auch als stets vorhanden angenommen werden.

2. Das Unbewußte in der Kunst

Besonders in der Kunst, als freie und kreative, d.h. als zunächst weniger normativ gebundene Form menschlichen Tuns, sind die in 1. genannten Determinanten von entscheidender, nicht zu leugnender Bedeutung. Gleichwohl es gängig ist, in einem Kunstwerk zunächst die Biographie und den angeblichen Kommunikationsmovens des Künstlers zu berücksichtigen, geht dieser Ansatz nahezu in jeder Analyse und Interpretation von Kunst fehl. Wenn die Triebkräfte Freuds (Eros und Thanatos) als allgemein und zumeist unbewußt erkannt werden, müssen diese auch in jedem Kunstwerk jenseits offizieller Interpretationen identifizierbar sein. Eine rein auf die Bewußtseinslage des Künstlers rekurrierende Interpretation ließe so zum einen intellektuelle Redlichkeit vermissen, zum anderen wäre sie Ausdruck eines prämodernen, immer noch der Ich-Illusion erliegenden Denkens.

3. Es, Ich und Über-ich

Freud sieht innerhalb der menschlichen Psyche drei grundlegende sich einander bedingende Strukturphänome, die obzwar jeweilig in ihrer Funktion als auch in ihrer Architektur verschieden, die Konstitution der Psyche erst ermöglichen.

Somit wurde der Abschied von der Vorstellung von einem homogenen sich in Gänze bewußten, souveränen Ichs vollzogen, und statt ihrer die Diffusität und Heterogenität des Ichs und damit der gesamten Psyche behauptet.

Es, Ich und Über-Ich sind hierbei die innerpsychischen Diskurse, die Freud expliziert und deren Wirkmächtigkeit er nachweist. Ausgehend vom Phänomen des Unbewußten artikuliert die Theorie Freuds die Existenz von drei – für jedwedes Seelenleben basalen – Trieben, die das Unbewußte prägen. Der Trieb nach Selbsterhaltung/-behauptung, der Sexualtrieb (Eros) und der Todestrieb (Thantos) konstituieren das Es, das unhintergehbar ist und dessen Sein stets präsent ist, da eben auch die jeweiligen Triebe beständig walten.

Das Über-Ich steht dem Es als zivilisatorische Instanz entgegen und grenzt es durch dessen normativ-autoritären Charakter ein. Hierbei findet zuvorderst die frühkindliche Erziehung und die damit vermittelten kulturellen Werte und Gesetze ihren meist nicht reflektierten Niederschlag. Da das Es und das Über-Ich sich antipodisch und nahezu einander ausschließend verhalten, muß sich ein Ich formen, das zwischen beiden vermittelt und beiden ihre Existenz gestattet. Dies geschieht im Bewußten durch Reflexion, Vernunft, Erinnerung etc., im Unbewußten durch Träume, Phantasien, freudschen Fehlleistungen etc. Hierbei ist festzuhalten, daß selbst im wachen, bewußten Zustand das Unbewußte immer präsent ist und oftmals die eigentlichen Handlungsbedingungen, und deren Motivationen, vorgibt.

4. Böcklins Toteninsel in psychoanalytischer Interpretation

Offenkundiges und schon durch den Titel artikuliertes Thema von Böcklins Toteninsel ist der Tod und das Totsein. Zentrum des Bildes ist eine in stillem Wasser positionierte Insel, die sowohl kulturelle als auch natürliche Elemente kennzeichnen. Im vorderen Zentrum der Insel befindet sich eine Pforte, auf die ein Boot zusteuert, auf dem eine weiße erhobene Gestalt sowie ein Sarg und ein Ruderer zu erkennen sind. Die Insel weist eine von Zypressen und Dunkel geprägte Öffnung aus, die eher diffusen Charakter hat und deren Ende nicht zu ersehen ist. In den Felsen selbst sind scheinbar von Menschenhand geschaffene Gruften befindlich, die wohl als Grabstätten dienen. Der Himmel erscheint im Gegensatz zum Wasser wenig still, er ist von schweren dunklen Wolken geprägt, die nur hinter der Insel von Licht durchbrochen werden.

Es ist klar ersichtlich, daß das Bild in eher mytholgisierender, nicht in naturalistischer Weise, den Tod und das Totsein problematisiert. Ein Sarg wird auf die Toteninsel überführt, die zwar von der Lebenswelt getrennt ist, aber dennoch durchaus zugänglich. Die erhobene Rückenfigur läßt deutlich eine Selbstbehauptung gegenüber der geheimnisvollen Insel und deren Diskurs (Totsein) erkennen. Da die eigentliche innerinsulare Organisation und Architektur nicht vollständig zu erkennen ist, läßt sich zeigen, das das Bild keine präzisen Aussagen über den Tod formuliert. Die Performation im Bild schwebt zwischen Unbehagen, Geheimnis und Hoffnung. Der Eingang des Kahns in die Pforte ist hierbei antizipierbar. Die Rückenfigur behauptet trotz dessen ihr principium individuationis in ihrer Erhebung angesichts des Todes.

Sieht man von diesen beiden Diskursen der Selbstbehauptung und des Todes, die wohl als offiziell und bewußt konstruiert gelten können, ab, so stellt sich die Frage nach unbewußten Bildelementen. Folgt man der Argumentation der psychoanalytischen Theorie, so müssen diese manifest vorhanden und in ihrer Latenz identifizierbar sein. In der offiziellen Bildinterpretation finden sich – wie gezeigt – deutlich Hinweise auf den Todes- und den Selbsterhaltungtrieb. Die Recherche nach Elementen des Sexualtriebes, weil diese anscheinend nur unbewußt in das Werk implementiert wurden, muß sich auf eine andere Methode stützen. Latente Inhalte von Manifestationen (Bild/Traum) lassen sich hier durch formale Abstraktion und Assoziation nachweisen. In einer kognitiv-rezeptiv-analytischen Formalisierung der konkreten Bildelemente, zeigt sich hier der phallische Charakter des Kahns sowie der vaginale Charakter der Inselpforte bis hin zu den Zypressen. Freilich ist diese Interpretation zuvorderst nicht zwingend, wenn anstatt ihrer andere Elemente des Sexualtriebes aufgezeigt werden können. Daß dies allerdings notwendig ist, ergibt sich aus 2. bis 3. Hinsichtlich der Form sind die erwähnten Elemente plausible und kaum zu leugnende Manifestationen eines vom Sexualtrieb bestimmten Unbewußten.

Eine sich daraus ergebende Werkaussage skizziert den immanenten Zusammenhang der drei Triebstrukturen. Ein sich selbstbehauptendes Ich sucht auch immer die Entgrenzung, d.h. die Aufgabe individueller Dispositionen, sowohl im Eros als auch im Tod. Eros und Tod stehen im engen Zusammenhang, da der Eros erst die Voraussetzung für den Tod schafft.

Das Bild performiert also auch jenseits einer offiziellen Rezeption eine Daseinsanalyse, die bei weitem eine prämodern-illusorische Interpretation sprengt und eine psychoanalytische Methode unabdingbar macht.

5. Einwände

Freilich ist es ein bedenklicher Einwand, die Tauglichkeit des Rezipienten in Bezug auf seine psychologische Bestelltheit zu hinterfragen. Einiges, was als Unbewußtes gezeigt wird, kann eben auch als Unbewußtes des Betrachters und Analysanten verstanden werden.

Aber insofern die Triebkräfte als überindividuell und stetig wirksam definiert wurden, konstituiert sich hinsichtlich der Identifikation unbewußter Bildaussagen eine intersubjektive Plausibilität. Es bleibt hierbei unbestritten, daß auch personale, d.h. biographisch-individuelle Elemente, im Bild ihren Niederschlag finden, was aber keineswegs von einer Interpretation jenseits dieser Fragestellung dispensieren darf.

Schließlich kann es nicht kulturelle Aufgabe der Kunst sein einzig singulär-individuelle Momente des Künstlers zu konstatieren, sondern sie muß überindividuelle Daseinsmomente problematisieren, um überhaupt erst erfaßbar und als Kunst verstehbar zu sein.