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Lüstlingsliebe – Anmerkungen zum Spielfilm „Homevideo“

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Ein 15jähriger Knabe onaniert und begeht aus diesem Grund Selbstmord. Auf einen Satz gebracht ist das der Plot von „Homevideo“. Aber, wie kann es sein, dass ein Heranwachsender wegen einer solchen sexuellen Belanglosigkeit Selbstmord begeht? Der Film gibt darauf eine leicht verdauliche Antwort, leicht verdaulich, weil scheinbar konsistent und permanent im Konsens mit dem Zeitgeist.

Bereits an der Konstruktion des Protagonisten lässt sich das nachvollziehen. Denn Jakob sieht gut aus und ist wohlerzogen, seine Freundin ist attraktiv, sein Handeln – auch dann wenn er fehlt – für den Zuschauer verständlich. Selbst für sein eigenhändiges Abfilmen einer eigenhändigen sexuellen Befriedigung trifft das zu, denn in anderen Szenen zeigt der Film die zerrüttete Ehe der Eltern und kurz zuvor eine erste Konversation mit der schönen Hannah. Einem Menschen, der von solchen Erlebnissen aufgeladen ist, billigt man in unseren aufgeklärten Zeiten das, was Jakob selbst gefilmt hat, schon zu. Und man versteht auch, dass dem Jungen, dessen Hobby schließlich eine Videokamera ist, in dieser Situation der „exhibitionistisch-narzisstische Gaul“ durchgeht. Hätte Jakob das Video aber selbst veröffentlicht, etwa weil er irritieren oder provozieren will, so wäre er für das bürgerliche Publikum unmöglich geworden. Der Protagonist hätte die Zuschauer verloren, sein Selbstmord würde nur noch als logische Konsequenz eines Wahnsinns gesehen werden, dementsprechend wäre ab diesem Zeitpunkt die Bereitschaft zu Reflexion und Mitgefühl gering. So gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass der Film dann noch einen Preis erhalten hätte, denn ein „öffentlich wichsender Teenager“, der auf diese Weise der Gesellschaft den Zerrspiegel vorhält oder vorhalten möchte, kann wohl nicht Bestandteil eines preisgekrönten Films sein, genauso wenig wie eine dicke Freundin mit Warze auf der Nase. Vielmehr erhöht der ästhetische wie der ethische Konsens mit dem Zuschauer die Chance auf Preiswürdigkeit und Akzeptanz.

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorhersagen zu können, dass „Homevideo“ vor allem in Schulen reüssieren wird. Der verhängnisvolle Kontext, den der Film aufspannt, wird überwiegend von Jugendlichen getragen: von der unreifen Hannah, von dem leichtsinnigen Jakob und dem bösartigen Henry, alles Figuren, die noch nicht vollständig bürgerlich überformt sind, sondern bis zu ihrer Vervollkommnung noch Objekt pädagogischen Eifers sind. Eine reife Erwachsenenwelt wird somit vorwiegend neben den verhängnisvollen Kontext gestellt und kann die Rolle des Wissenden und Belehrenden einnehmen, bekanntlich eine Rolle, in der sich Lehrernaturen nicht unwohl fühlen.

Gewissermaßen entsteht neben den Abgründen der Haupthandlung eine Idylle der Besserwisser, in der sich der Zuschauer wiederfinden kann. Und hierin geht der Film fehl. Denn die Ursprünge von Jakobs Verhängnis liegen tiefer und werden vom Film höchstenfalls gestreift.

Der Selbstmord des Protagonisten steht für die Anfälligkeit des Menschen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die existentielle Bedürfnisse, Schwächen und Geheimnisse des Einzelnen in Intimräume einsperrt, jedoch gleichzeitig in sie einzudringen droht. Anders als im Film gezeigt, erfolgt dieser Einbruch normalerweise nicht durch die Untat eines Bösewichts, sondern durch legales staatliches Handeln, in der Form von Datensammlungen, Abhöraktionen oder aufdringlicher staatlicher Fürsorge, etwa bei der Betreuung von Kleinkindern. Er ereignet sich in der großen Mehrheit der Fälle auch nicht spektakulär, vielmehr eher schleichend. Die allmähliche Aufweichung von Datenschutz und Grundrechten, zumal dann, wenn sie der inneren Sicherheit oder dem Kindeswohl dient, nehmen wir kaum wahr. Dass wir aber allen Grund dazu hätten, erklärt der Film, indem er unterschiedliche Konsequenzen einer Onaniehandlung andeutet bzw. zeigt. Im Intimraum wird die sexuelle Selbstbefriedigung eines Teenagers durchaus toleriert, der Vater Jakobs betont seinem Sohn gegenüber die Natürlichkeit dieses Vorgangs ja auch ausdrücklich … im öffentlichen Raum ist Onanie aber verachtet, aus dem geduldeten Lüstling wird dann der verachtete.

Der Film richtet den Blick des Zuschauers aber nicht auf die verhängnisvolle Brüchigkeit der Grenze zwischen dem intimen und dem öffentlichen Raum, sondern auf einen niederträchtigen Menschen namens Henry, dessen Böswilligkeit als eine Ursache für Jakobs Unglück deutlich gezeigt wird. Und das hat Folgen für die Rezeption des Films: Der Zuschauer wird auf diese Weise kaum geneigt sein, sich mit Jakob als Sinnbild für die Anfälligkeit des modernen Menschen zu identifizieren, vielmehr eine Metaposition einnehmen, in der er sich über Henry und die diesem durch das Internet gegebenen Möglichkeiten echauffiert. Dabei ist Henry eine belanglose Figur, denn es ist unabänderlich, dass Menschen oftmals ihren Vorteil auf Kosten anderer suchen, nicht unabänderlich sind hingegen gesellschaftliche Strukturen, diese können durch Diskurse durchaus weiterentwickelt werden. Aber solche Diskurse führt der Film nicht, weder über die problematische Gefangenschaft des Bürgers in seiner Intimsphäre, noch über den eo ipso ambivalenten Mobbingbegriff – diesen hält er durch seine Figuration stets eindeutig – und auch nicht über die vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen bei den Lusthandlungen von Henry und Jakob. Warum ist die Gesellschaft so hilflos gegenüber Henrys lustvoll ausgelebten sadistischen Neigungen und warum ist sie so hilflos gegenüber Jakobs psychischem Zerfall? Onanie tut niemandem weh und schadet auch sonst nicht, die Befriedigung sadistischer Triebe hingegen schon.

Charakteristisch für den Film ist also seine Blindheit gegenüber der Verantwortlichkeit von Strukturen. Stattdessen sieht er unreife Jugendliche und persönliche Umstände, wie die zerrüttete Ehe der Eltern, als Faktoren für das tragische Ende Jakobs. Der Zuschauer, welcher sich wohl kaum mit dem bösen Henry oder dem in seine eigene Kamera onanierenden Jakob identifizieren wird, braucht folglich die von ihm mitgetragenen Strukturen nicht zu hinterfragen, sondern kann voller Wohlgefühl über die Verwerfungen in der modernen Internetwelt schwadronieren. Der Diskurs, den der Film über sich selbst erzeugt, ist vermutlich Tratsch. Dafür ist allerdings nicht sein Thema verantwortlich, vielmehr der Umstand, dass er nur gefallen will. Dabei wäre die Tragödie Jakobs durchaus geeignet, beim Zuschauer eine Katharsis auszulösen. Hierfür müsste sie aber Selbstgewissheiten entlarven, (Teil-)Identifikationen auch mit den „Bösewichtern“ provozieren und überhaupt das Rezeptionsverhalten irritieren, denn eine Katharsis gibt es nur, wenn der Zuschauer auch seine eigene Person in einen kritischen Diskurs einbezieht. Doch um eine solche Katharsis zu erzeugen, muss man zuvor Handlungszusammenhänge treffsicher analysieren. Dies ist wohl vonseiten der Macher des Films nicht geschehen. Leider muss man sagen … Lüstlingsliebe ist nämlich durchaus ein reflektionswürdiges Thema, verbergen sich doch die Widersprüche einer jeden menschlichen Gesellschaft vor allem in ihrer Haltung zur Sexualität.

Homevideo“ erhielt den Deutschen Fernsehpreis. Gemessen an den handwerklichen Qualitäten des Films ist das nachvollziehbar … hinsichtlich seiner intellektuellen Mängel und seiner Mutlosigkeit aber nicht. Manchmal sagen Preise eben mehr über die Preisgeber als über die Gepriesenen.