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Edward Snowdens Enthüllungen und das Ende einer Erzählung

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Die Demütigungen, die sich mit der Personalie Edward Snowden verbinden, sind multipel. Snowdens Enthüllungen, deren Ende wohl aller Voraussicht nach noch nicht erreicht ist, bedeuten nichts weniger als das Ende einer großen, omnipräsenten okzidentalen Narration. Snowden markiert zwangsläufig eine, um das Wort des Altkanzlers Helmut Kohl zu gebrauchen, „geistig-moralische Wende“. Die westliche Vorzüglichkeit ist passé, der Begriff einer transatlantischen Freundschaft ist als hohle Phrase decodiert, der philosophische Firlefanz von Humanismus und Aufklärung offenbarte sich als bloßes Geschwätz und die Integrität des Rechtsstaates gerann zur bloßen Behauptung.

Es erscheint geradezu grotesk, daß ein 30jähriger IT-Spezialist, nicht einmal direkt bei der NSA angestellt, nicht einmal verbeamtet, Geheimnisträger dieses Ausmaßes werden konnte. Und es führt schlichtweg die Arbeit der Geheimdienste ad absurdum, wenn tausendfach hochsensible Datensätze, die dazu im Stande sind, die Weltwahrnehmung nachhaltig zu prägen, in den Besitz jemandes wie Edward Snowden quasi im Handumdrehen gelangen. Und schließlich erscheint es qualvoll belustigend, daß Snowden ausgerechnet in Hongkong und Moskau Herberge fand, die ihm von dem allzu aufgeklärten und rechtsstaatlichen Abendland nicht gewährt wurde.

Die Causa Snowden ist also nicht bloß eine gigantische Entlarvung geheimdienstlicher Rechtsbrüche, auch nicht bloß Entlarvung US-amerikanischer und britischer Geistesverfassung, sondern eben auch Entlarvung der Ohnmacht, der Borniertheit, der kleingeistigen Verwaltungsnatur von Bundesregierung und Kanzlerin sowie der selbstgefälligen Bequemlichkeit weiter Teile ihrer Bevölkerung.

Die Vielschichtigkeit des Falles, die in den Verschränkungen ihrer Akteure einem Possenspiel gleicht, ermöglicht und verlangt – gemäß dem Diktum Wittgensteins „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, …“, und später „… die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist.“ – eine Neuorientierung innerhalb der westlichen Welt, denn dank Snowden zeigte sich einiges, was der Fall ist, und vieles, was eben nicht der Fall ist.

Nach Edward Snowden befindet sich das Abendland in einer rhetorischen Krise. Mit der Tatsache verdachtsloser wie flächendeckender Ausspähung von mehreren Millionen Menschen, das genaue Ausmaß ist noch nicht bekannt, implodierte der vormals gängige Konnex von Überwachungs- und Unrechtsstaat. Der Rechtsstaats- und Demokratiebegriff ist nachhaltig beschädigt. Zur Darstellung der eigenen westlichen Exzellenz wird er nicht mehr taugen.

Gleichfalls ist der abendländisch-aufklärerische Wertefundus als bloßer Gründungsmythos des Westens identifikabel. Freiheits- und Individuationswerte erscheinen nun als reines Blendwerk subtiler staatlicher Repression und allumfassender Überwachung. Der Aufklärungsmythos offenbart sich als selbstreferentieller Humbug, seine Sprache besteht nur noch aus tradierten philosophischen Blasen.