Es ist die Erotik der Keuschheit, die Salome im Anblick des „kühlen“ und „silbernen“ Mondes besingt. Sie hat das Fest, das Hintergrund dieser zweiten Szene der Oper ist, verlassen, weil sie sich den anzüglichen Blicken des Herodes ausgesetzt sah.
Interpretatorisch ist die Szene interessant, denn sie problematisiert die Bedeutung des Blickes des Anderen auf das Subjekt (Sartre) und damit dessen zwangsläufige Verobjektivierung. Salome, ob ihrer Attraktivität von Herodes blickend begehrt, erkennt sich in der Passivität des Sexualobjektes. Der Blick des Anderen versetzt das Subjekt in eine Identitätskrise. Salome ist Sexualobjekt und besingt die Keuschheit, also das Gegenmodell ihrer Verobjektivation. Der Mond fungiert als Statthalter des sich in ihm spiegelnden Subjekts, das durch den sexualisierten Blick der Anderen verunmöglicht ist. Gleichwohl ist diese Subjektkrise Teil der externen Identität. In der Verobjektivation liegt die Voraussetzung sozialen Agierens. Somit muß der Blick des Anderen Teil eines Ich-Konzeptes sein und funktionalisiert werden.
Salome, darauf ist hinzuweisen, besingt nicht Frigidität in dieser Szene sondern die Keuschheit, d.h. das sexuelle sich Aufsparen, das Bewahren der Virginität. Simone de Beauvoir beschreibt treffend, daß die Penetration ein invasiver Akt ist und damit einer Besitznahme gleicht. Die keusche Frau ist eine noch nicht in Besitzgenommene, durch ihr intaktes Hymen noch unversehrtes Subjekt.
Die Ausgangslage Salomes ist die einer aus Passivität durch Verobjektivation resultierende Krise. Die sexuelle Attraktivität aber ist Teil und Instrument ihres Ich-Konzepts.
Alsbald zeigt sich dies, wenn Salomé den Hauptmann Narraboth verführt, seinen Befehl zu mißachten und ihr den Zugang zu Jochanaan zu ermöglichen. Die sexuelle Verobjektivation ermöglicht ihr Macht und bedeutet Identitätskrise zugleich. Diese Ambivalenz führt sich im gesamten Werk fort und wird erst folgerichtig durch ihren Tod aufgehoben.
Salome wie zuvor ihre Mutter kontaminiert den gesamten Hofstaat durch permanenten sexuellen Reiz. War aber Herodes einst die Triebabfuhr durch das Beschlafen ihrer Mutter gestattet, ist ihm diese mit seiner Stieftochter Salome nicht möglich. Die Feste, die er feiert, befriedigen nicht. Es sind Feste banaler Dekadenz.
Der Blickende hat die Macht der Objektivation, aber nicht die Macht über das Objekt. Dem Objekt (hier dem Sexualobjekt) ist er ausgesetzt. Das Problem des Herodes liegt, schlicht gesagt, in seiner Dauergeilheit. Und wer geil ist, kann nicht regieren. Die sexuelle Kontamination führt so zu einem Zustand der Stase, des stetigen Unbefriedigtseins und des politischen Verweilens. Die damit einhergehende Untergangsstimmung in Anbetracht der mannigfachen politischen und religiösen Verwerfungen macht Jochanaan zur existentiellen Bedrohung.
Jochanaan gefährdet sowohl das Staatswesen, indem er der Untergangsstimmung mit seinen Prophetien und moralischen Verdikten sekundiert, wie auch das Ich-Konzept Salomes.
Seine Weigerung, sie anzusehen und die Behauptung seiner moralischen Überlegenheit demontieren das Selbstkonzept Salomes. Sie wird ihrer Macht und ihres moralischen Wertes beraubt. In der Weigerung sie anzublicken, bestreitet Jochanaan ihre Relevanz, weil sie sich ja gerade durch den Blick konstituiert.
Damit eignet sich Jochanaan zum Liebesobjekt, weil er Liebessubjekt werden soll. Die erfüllte Liebe, d.h. das gegenseitige Geliebtsein, verheißt scheinbar einen Ausweg aus der Erfahrung von Kontingenz und Nonrelevanz. Das Liebesbedürfnis resultiert aus einer basalen, persönlichkeitsumfassenden Krisenerfahrung. Die Liebe trügt über die eigene Austauschbarkeit hinweg.
Trotz der augenscheinlichen Fundamentalverschiedenheit der Ich-Konzepte Jochanaans und Salomes und der Unüberwindbarkeit ihrer Differenzen gleichen sie sich im Ausgang und im Telos. Liebe und Religion leiten sich von Kontingenz- und Nonrelevanzerfahrungen ab. Das Ich-Konzept Herodes´ dagegen basiert auf historischer Setzung. Er bedarf keiner Legitimation. Dennoch ist sein Ich-Konzept durch die Untergangsprophetien Jochanaans und der Ohnmacht vor dem Sexualobjekt Salome gefährdet.
Die Oper etabliert so ein Geflecht von Figurenkonzepten, die sich gegenseitig bedingen und gefährden. Jochanaan erfährt seine Bedeutung nur in der fundamentalen Ablehnung des Bestehenden, er ist also von diesem Bestehenden unbedingt abhängig. Er verweigert den Blick auf Salome, weil er um die Korrumpierbarkeit durch sexuellen Reiz weiß. Indem sich der Ablehnende durch die Ablehnung konstituiert, konstituiert er sich eben durch das Abgelehnte.
Herodes, der aus Angst den Propheten vorerst nicht hinrichtet, sondern einsperrt, ist in der Konstellation zwischen ihm und Jochanaan die mächtige Instanz, allerdings ist er durch Salome nicht souverän. Im Sinne Batailles entsteht Souveränität erst im Moment der Transgression, die er sich aber verwehrt. Er begehrt Salome und kann sie nicht beschlafen. Damit ist auch er in seiner Setzung grundlegend irritiert.
Salome, die diese beiden Protagonisten über ihre sexuelle Attraktivität verbindet, ist in der oben beschriebenen Ambivalenz gefangen.
Die Kollision dieser drei Ich-Konzepte ist unausweichlich und endet folgerichtig im Tod von Salome und Jochanaan, also in der Vernichtung der Fundamentalopposition und der sexuellen Korrumpierbarkeit zu Gunsten der historischen Setzung.
Es liegt in der figurativen Stringenz des Werkes, daß Salome den Kopf Jochanaans auf einer Silberschüssel fordert. Sie beweist damit die Macht des Sexus gegenüber der der religiösen Prophetie und der staatlichen Instanz (vorerst) und ermöglicht zugleich eine Intimität mit Jochanaan im Areal der vorgeblichen Keuschheit (die Silberschüssel korrespondiert mit dem zuvor besungenen Mond).
Neben diesen Figurenaspekten sind ferner die Wahrnehmungsdiskurse im Werk bestimmend. Die Antagonismen zwischen Sehen (Salome, Herodes) und Hören von Sprache (Herodes, Soldaten) sowie Hören von Musik (Salome, Herodes etc.) bestimmen die Figuren. Am Schluss obsiegt das Hören des Befehls: „ Man töte dieses Weib.“ Doch erst nachdem Herodes angewidert sehender Zeuge der Intimität zwischen Salome und dem Kopf Jochanaans wurde.
Im Gesamtwerk als Oper werden diese Wahrnehmungen zusammengefaßt. Damit formuliert das Werk immanent eine Kunstaussage im Sinne des Wagnerischen Gesamtkunstwerkes.