Fünf Gründe, die zu einer kritischen Betrachtung der Darstellung von Vergangenem führen sollten

1. Eine Darstellung rechtfertigt aufdringlich den gegenwärtigen Zustand, d.h. sieht die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse der eigenen Gegenwart als Fortschritt oder gar als krönenden Abschluss einer geschichtlichen Entwicklung (z.B. sehen die Schulbücher der DDR deren entwickelte sozialistische Gesellschaftsordnung als Resultat der Befreiung der Unterdrückten und als Vorhof zum Paradies des Kommunismus, die Schulbücher unseres Staates sehen die freiheitlich-demokratische Grundordnung oftmals als die nun endlich gelungene Vollendung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten).

2. Eine Darstellung ist zu eindeutig, sieht z.B. einen geschichtlichen Verlauf nur als folgerichtig und sieht keine Brüche oder weiß alles ganz genau, ohne einzuräumen, dass jedes Bild, welches wir uns von der Vergangenheit machen, unsicher ist.

3. Eine Darstellung erscheint einseitig und parteiisch, z.B. weil sie einseitig Schuldzuweisungen trifft oder deutlich durch eine bestimmte Weltanschauung (= Ideologie) beeinflusst ist, welche als solche aber meistens verschwiegen wird. Mittels dieses Verschweigens stellt eine Darstellung eine scheinbare Plausibilität (= Glaubwürdigkeit) her. Doch diese Plausibilität ist nur innerhalb der Weltanschauung gegeben und kann somit nicht als objektiv gelten.

4. In einer Darstellung werden erkennbar Zusammenhänge unvollständig (z.B. wichtige Ursachen, Folgen, Bedingungen etc. werden nicht genannt), nicht epochenübergreifend oder verzerrt (z.B. übertrieben, spöttisch, beschönigend, feierlich) dargestellt.

5. In einer Darstellung wird nur wenig erklärt (d.h. wenige Ursachen genannt) oder die Erklärungen sind widersprüchlich bzw. schlecht durch Fakten belegt.

Anmerkung: Jede Aussage, Abhandlung oder Darstellung transportiert zugleich mit dem Inhalt einen Subtext. Dieser Subtext beinhaltet die Motivation der Aussage oder Darstellung, also unter Umständen das, was eigentlich gemeint ist.

Beispiel: Schülerin X schreibt vor einer Unterrichtsstunde „Lehrer Y ist doof“ an die Tafel. Wahrscheinlich bezweifelt die Schülerin gar nicht die intellektuellen Fähigkeiten des von ihr bloßgestellten Pädagogen, sondern sinnt auf Rache, z.B. für eine ungerechte Bewertung. Der Sinn des „Tafelanschriebs“ steht also im Subtext, der Sinn des Textes ist belanglos. Das kann auch bei historischen Texten vorkommen, deren Subtexte daher immer Teil der kritischen Betrachtung sein sollten.

Erkennt man in einem Text, Bild oder Film einen oder mehrere dieser Gründe, dann müssen in der Interpretation die Verzerrungen, ideologischen Einseitigkeiten, der Subtext etc. einschließlich eines Belegs genannt und hinterfragt werden. Ergebnis der Hinterfragung muss am Ende eine begründete Einschätzung der Plausibilität der Darstellung sein.

Vorschlag für ein Schema zur Urteilsbildung im Politikunterricht

Vorschlag für ein Schema zur Urteilsbildung im Politikunterricht

Art des Urteils

Urteilsfindung und Urteilsbegründung

Sachurteil

ein Sachurteil kann nur nach einer empirischen Überprüfung von (Theoremen), Hypothesen oder Thesen erfolgen*

Quellen für (Thesen) und Hypothesen:

Sendungen im Fernsehen (Dokus, Kabarett etc.) Texte aus (Schul-)büchern, Zeitungen, Karikaturen etc.

Quellen für empirische Urteile [= Ergebnis der Überprüfung der Hypothese(n) / These(n)]:

Fakten und empirisch bewährte Faktenzusammenhänge (Theorien, Gesetze) aus Schülbüchern, Zeitungsartikeln, Fachbuchartikeln, Textsammlungen, Fernsehbeiträgen, (persönliche Erfahrungen), Methoden der empirischen Sozialforschung etc.

Werturteil →

ein Werturteil unterscheidet, was sein soll bzw. nicht sein soll. Manche Werte sind für staatliche Schulen unbedingt verbindlich (z.B. die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung), bei anderen Werten gibt es bei der Anerkennung Spielraum.

Werte drücken sich häufig in Begriffen aus, die Zustände ausdrücken, welche (fast) alle Menschen wertschätzen (Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Würde, Diversität, Minderheitenschutz etc.). Allerdings sind diese Begriffe nicht präzise definierbar, so dass der Ausgangspunkt eines Wertediskurses oder einer Werteargumentation oftmals unklar bleibt.

Die Urteilsfindung beim Werturteil ist ausgesprochen schwierig, da die Begründung solcher Urteile nach wie vor eine Aporie ist. (→ naturalistischer Fehlschluss)

Dennoch kann man auf drei Wegen zu einem begründeten Urteil kommen:

a. Man überprüft, ob eine Handlung, eine Entscheidung, ein Gesetz, ein Zustand etc. mit allgemein anerkannten und verbindlichen Normen (z.B. Grundgesetz) vereinbar ist.

b. Man überprüft, ob ein wertebegründendes Modell oder eine wertebegründende Theorie (Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“, Habermas’ „Diskursethik“ oder John Lockes „Two Treatises of Government„ etc.) eine Wertebehauptung (z.B. die Soziale Marktwirtschaft schafft Gerechtigkeit) rechtfertigen oder eben nicht.

c. Man begründet eine Wertebehauptung (das, was sein soll) mit ihrem Nutzen oder ihrer Effizienz (analytische Ethik, Utilitarismus). Was nützt oder effizient ist soll also sein. Allerdings ist Nutzen (und Effizienz) sehr kontextabhängig, denn ein leidenschaftlicher Autofahrer und ein Umweltschützer schätzen den Nutzen einer Autobahn wahrscheinlich unterschiedlich ein. Eine solche Wertebegründung muss folglich – wie auch die beiden anderen – die Form einer kontroversen Diskussion haben.

*Der Unterschied zwischen einer These und einer Hypothese ist, dass Letztere keine einfache, sondern eine sogenannte Zusammenhangsbehauptung ist, bei der stets eine Beziehung zwischen einer Annahme und deren Bedingungen zentral ist.

Konkret lässt sich dieser Unterschied daran erkennen, dass Hypothesen meistens in einem Wenn-dann-Satz formuliert werden, um die Bedingungen für die Annahme mit einzubeziehen.

https://www.helpster.de/den-unterschied-zwischen-these-und-hypothese-verstaendlich-erklaeren_75221

 

Schlussfolgerungen

Durch die Mühen der Urteilsbildung sollte SchülerInnen deutlich werden, dass (nichtwissenschaftliche) politische Urteile machbar sind als auch eine notwendige Orientierung herstellen.

Es muss aber auch die stets immanente Mangelhaftigkeit der Begründung erkannt werden aus der sich die immer nur vorläufige Gültigkeit eines politischen Urteils ergibt als auch die relative Gültigkeit, d.h. ein politisches Urteil ist immer abhängig von der Perspektive des Blicks auf das zu Beurteilende. Deshalb kann es über eine politische Handlung oder eine politische Entscheidung auch mehrere plausible Urteile geben → Diskursnotwendigkeit wegen des Gebots der Multiperspektivität.

Im Politikunterricht gewonnene Urteile sind immer irgendetwas zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit. Sind Urteile als Unterrichtsergebnis geplant, so können diese nicht im Voraus von der LehrerIn bestimmt werden, sondern müssen – in einem von ihr kontrollierten Rahmen – von den SchülerInnen formuliert sein.

Politische Urteile können nicht wahr oder unwahr sein, sondern nur plausibel oder nicht plausibel. Im Gegensatz zu Gerichtsurteilen sind im Politikunterricht erarbeitete Urteile nie endgültig und damit unendlich diskussionsbedürftig (allerdings dürften in der Schule die meisten Diskussionen mit der Notenvergabe enden).

Wenn wir politisch urteilen, dann beziehen wir eine Position, dann müssen wir uns für oder gegen etwas oder gegen jemanden entscheiden, d.h., notwendigerweise Partei ergreifen.“¹ Dieses Diktum Peter Weinbrenners verweist auf den Umstand, dass ein politisches Urteil zumeist sowohl ein Sach- als auch ein Werturteil in sich trägt. Dieser enge Kontext zwischen den beiden Urteilsformen ist wissenschaftstheoretisch problematisch und es bleibt nur der unzulängliche Weg der analytischen Ethik, d.h. was nützlich ist soll sein (siehe oben).

1 Weinbrenner, Peter, Politische Urteilsbildung als Ziel und Inhalt des Politikunterrichts, in: Massing, Peter/Weißeno, Georg (Hrsg.), Politische Urteilsbildung. Zentrale Aufgabe für den Politikunterricht (= Reihe Politik und Bildung, Bd. 12), Schwalbach 1997, S.74