1. Der Topos von der Republik ohne Republikaner
Bis in die jüngere Vergangenheit, und in Schulbüchern auch gegenwärtig noch, galt und gilt die These von der Kriegsbegeisterung der Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Inzwischen sehen das viele Historiker differenzierter [1]. Der Topos von der Weimarer Republik als Republik ohne Republikaner, erfährt hingegen weniger Kritik. So ist etwa in einem Lösungsvorschlag für das sächsische Geschichtsabitur 2009 (Grundkurs) der folgende Passus zu lesen:
„… Zwischen den alten konservativen Eliten und den republikfeindlichen Kommunisten schrumpfte die bürgerliche staatstragende, aber verunsicherte Mittelschicht. Sie wurde zum Teil sogar für rechtsextreme Tendenzen anfällig. Vor diesem Hintergrund erscheint das Schlagwort von der Weimarer Demokratie als einer „Republik ohne Republikaner“ ziemlich plausibel.“ [2]
Leider lassen die Autoren dieser Zeilen offen, was den eigentlich schrumpft. Etwa die gesamte Mittelschicht, die in toto staatstragend war? Oder nur der kleine oder große bürgerlich-staatstragende Teil? Und es tun sich weitere Fragen auf: War tatsächlich allein die bürgerliche Mittelschicht staatstragend, obgleich die SPD innerhalb der Weimarer Koalition beständig stärkste Partei war? Ist es sinnvoll, die NSDAP-Wähler so undifferenziert und unreflektiert als nicht mehr bürgerlich-staatstragend einzuordnen? Vom Schüler werden in diesem Ausschnitt des Lösungsvorschlags also staatstragende Phrasen erwartet, die – schon aufgrund ihrer unpräzisen Begrifflichkeit und ungenauen Kontextbildung – keiner kritischen Hinterfragung standhalten können. Auch die Schlussfolgerung, dass das Schlagwort von der „Republik ohne Republikaner“ plausibel sei, ist eine staatstragende Plattitüde, die im Folgenden als solche identifiziert werden soll.
2. Voraussetzungen einer stabilen politischen Kultur und deren Grenzen im demokratischen Rechtsstaat
Menschen haben im Allgemeinen ein pragmatisches Verhältnis zur herrschenden politischen Ordnung, wobei es wohl gleichgültig ist, welche Form sie besitzt. Nicht umsonst hat im nationalsozialistischen Deutschland der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS umfassend die Volksstimmung erkundet [3]. Ergo gingen auch in dieser gemeinhin populären Diktatur die Herrschenden von einer schwankenden Volkslaune aus, über deren Geneigtheit man sich ständig Gewissheit verschaffen wollte. Und fraglos gab es auch in der vorangegangenen Republik keine starre politische Kultur, sondern eine häufig fluktuierende, was sich z.B. in den Reichstagswahlergebnissen offenbart, vor allem beim Betrachten des Resultats der Abstimmung vom 6. Juni 1920, bei der die Weimarer Koalition, also die republiktragenden Parteien SPD, DDP und Zentrum, nur noch eine relative Mehrheit von 43,6 % der Wählerstimmen erreichten. Bei der etwa 18 Monate zuvor abgehaltenen Wahl zur Weimarer Nationalversammlung erzielten diese auf eine parlamentarische Republik ausgerichteten Parteien noch 76,1 %! Dieser Bruch ist wohl motiviert worden durch die Bekanntgabe der Inhalte des Versailler Vertrags im Mai 1919, der nur wenige Monate zuvor stattgefundene und gescheiterte Kapp-Putsch, welcher gerade nicht von einer antirepublikanischen Gesinnung breiter Bevölkerungsschichten zeugt – es gab ja einen Generalstreik gegen die Putschisten – war hier wahrscheinlich wenig einflussreich.
Zu vergleichen mit der Zäsur vom 6. Juni 1920 ist sicherlich die vom 14.9.1930. Bei der zu diesem Termin stattgefundenen Reichstagswahl gewann die NSDAP 107 Mandate, zuvor hatte sie 12! Eine solche erdrutschartige Veränderung eines Wahlergebnisses hatte es davor in Deutschland noch nicht gegeben. Nachdem 1928 der republikfeindliche Alfred Hugenberg den verhältnismäßig republikfreundlichen Kuno Graf von Westarp als Parteivorsitzenden der konservativen DNVP abgelöst hatte, war dieser Wahlausgang eine weitere dunkle Wolke am Horizont der Republik, und bekanntlich kamen davon noch viele.
Bestimmt war die politische Stimmungslage zur Zeit der ersten deutschen Republik außergewöhnlich volatil, was allerdings nicht in ihrer Vorgeschichte lag. Denn erstaunlicherweise hatten im Verlauf des Kaiserreichs die Parteien der Weimarer Koalition seit 1890 beständig eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen [4]. Man kann also (zugespitzt) postulieren, dass das Zweite Deutsche Kaiserreich eine konstitutionelle Monarchie ohne konstitutionelle Monarchisten war. Doch wesentlicher ist die Feststellung, dass die politische Kultur des Kaiserreichs vergleichsweise beständig war, denn hierin besteht der wirkungsreiche Unterschied zur nachfolgenden Republik, die diese Eigenschaft nicht aufweisen konnte, was – bekanntermaßen – verhängnisvolle Folgen nach sich zog.
Was waren nun die Ursachen für diese Differenz? Naheliegend ist in diesem Kontext ein Blick auf den Ersten Weltkrieg, der chronologisch zwischen den beiden politischen Ordnungen liegt, und seine Ursächlichkeit ist somit zu erwarten. Dennoch darf dieser Einfluss nicht überschätzt werden, zum einen, weil auch politische Kulturen anderer Länder mit dem Weltkrieg belastet wurden und sich stabil behaupteten, zum anderen, weil das Ergebnis der Wahl zur Nationalversammlung (Januar 1919) demjenigen der letzten reichsweiten Vorkriegswahl (Januar 1912) weitgehend entsprach. Erst die Enttäuschung über den Versailler Vertrag machte die deutsche Bevölkerung in der Frage der angemessenen politischen Ordnung unstet und unsicher, die von den Siegermächten (dümmlich) organisierte deutsche Niederlage bewirkte damit ihre folgenschwerste Konsequenz. Fortan fühlten sich die Deutschen nicht nur als Verlierer, sondern auch als moralisch Diffamierte. Neben den ökonomisch-sozialen Problemlagen und den bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit, war dies der bedeutendste Teil eines missglückten Gründungsmythos, der die eigentliche Voraussetzung für eine Verlierer-Identität war, welche die Republik durchweg prägte. Das stabilere Kaiserreich wie die stabilere Bundesrepublik Deutschland besaßen respektive besitzen eine Gewinner-Identität, die sich aus der Erzählung über den glorreichen Sieg bei Sedan bzw. aus der vom Wirtschaftswunder speist. Die psychologische Wirkung von Gründungsmythen sollte man also nicht unterschätzen, und im Fall der Weimarer Republik verstärkten einige Begleitumstände dieses Defizit noch. So hätte man den normativen Gehalt der Verfassung – gerade bei einem so ungünstigen Beginn – apodiktisch formulieren müssen und nicht – wie geschehen – auf eine klare Parteinahme zugunsten einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verzichten dürfen, was – eo ipso – auch die Bereitstellung wirkungsvoller Mittel zur Verteidigung dieser Ordnung bedeutetet hätte. Denn menschliche Gesamtheiten benötigen Orientierung, also ein festes Korsett fundamentaler Normen, die als unbedingt notwendig erscheinen, wie sie etwa in den Zehn Geboten oder in unseren Grundrechten konkret sind. Entscheidend ist jedoch nicht die Formulierung der Normen an sich, diese können aufgrund der Unmöglichkeit einer sicheren Begründung und der Vieldeutigkeit der Begriffe, mittels derer sie abgefasst sind, ohnehin immer auch anders formuliert werden, sondern die Erzeugung des Scheins einer unbedingten Gültigkeit von diesen. Und der lässt sich nachdrücklich durch die Behauptung einer höheren Moral hervorbringen. Allerdings: Diese Behauptung erlangt vor allem dann Glaubwürdigkeit, wenn der Staatsgründung ein Gemeinwesen vorausgeht, dessen moralisches Fundament evident erschüttert ist. In dieser Hinsicht hatten die Gründer von BRD und DDR in der Tat günstige Voraussetzungen, diejenigen der Weimarer Republik hingegen nicht, da eine Mehrheit der Deutschen ihrem Gemeinwesen weder die Allein- noch die Hauptschuld am Ausbruch des Weltkriegs gaben und das Kaiserreich – übrigens ein für die damalige Zeit vorbildlicher Rechtsstaat mit einer demokratisch legitimierten Legislative und mit einer seit 1893 blühenden Wirtschaft – keinen systematischen Genozid realisierte, der nur annähernd mit den Dimensionen der Shoah vergleichbar gewesen wäre. Die Weimarer Republik hatte demgemäß nicht den Charakter eines moralisch erhabenen Gegenstaates, wohl durch Versäumnisse der Verfassungsgeber als auch durch mangelnde Handlungsspielräume, und niemals gelang es ihr, die eigene Unumgänglichkeit irgendwie plausibel zu machen. Sie erschien zu keiner Zeit als überlegene Problemlöserin, nicht als Fortsetzerin einer erfolgreichen Tradition, nie als souveräne Siegerin, weder gegenüber den inneren noch gegenüber den äußeren Gegnern.
Es kann deshalb kaum verwundern, dass es am Ende gelang, die Unvermeidlichkeit weitreichender Veränderungen in weiten Kreisen der Bevölkerung evident zu machen, zumal vielen der Nationalsozialismus vermutlich nicht antirepublikanisch erschien, was die Charakteristika Gleichheit und Brüderlichkeit betraf, war wahrscheinlich geradezu das Gegenteil der Fall. Und der Abschied von Parlamentarismus und Rechtsstaat fiel der Mehrheit wohl auch nicht schwer, denn ein Repräsentant, welcher das Volk versteht und dessen Interessen vertritt, erschien wohl nicht wenigen allemal überzeugender als 600 Repräsentanten im Reichstag, die sich prima facie permanent streiten, seit 1930 nur noch selten die Gesetzgebung bestimmten und für viele in der fernen Hauptstadt abseits der „echten“ Volksbelange standen. Letzteres galt und gilt auch für die Institution des Rechtsstaats, die ohnehin seit jeher dem Gros der Bevölkerung als Quell zu milder Bestrafung gilt, und damit einem als gerechtfertigt empfundenen Kompensationsbedürfnis nicht Genüge tut und tun kann. Allerdings bleibt es fraglich, ob der allmähliche Verlust des Rechtsstaats überhaupt in großem Maße wahrgenommen wurde, denn für die angepassten Volksgenossen existierte nach 1933 ein Scheinäquivalent in Form des Normenstaats [5], der – wenn man die willkürlich aus dem Recht gestellten Opfer ausblendet – den Eindruck eines Rechtsstaats respektive von Rechtsgleichheit hinterließ.
Obrigkeitsstaatliches Denken und monarchische Gesinnung waren kein relevanter Grund für das Scheitern der Republik. Hiergegen sprechen viele Indikatoren: Die Reichstagswahlen von 1890 bis 1919, bei denen durchweg parlamentsfreundliche Parteien eine Stimmenmehrheit erhielten und die auch hohe Wahlbeteiligungen aufwiesen, was im Übrigen bei den folgenden Wahlen weiterhin der Fall war; die – nach 1918 – bescheidenen Wahlergebnisse der Parteien, die eine Rückkehr zur Monarchie anstrebten; das klägliche Scheitern des Kapp-Putsches, bei dem sogar Teile der Beamtenschaft opponierten etc. Hauptverantwortlich für das schnelle Ende war vielmehr die geringe Integrationskraft der Republik, die keinesfalls Opfer einer tradierten politischen Kultur war, welche – angeblich – erst nach 1949 sukzessive überwunden wurde. Eine a priori überlegene Staatsform gibt es eben nicht, und damit auch keine, der logischerweise zuzustimmen ist, immer hat eine solche für sich zu werben und den Bürger zu überzeugen.
Zur Zeit hat selbst unser Staat, der auf einem Erfolgsmythos fußt, der beständig seine moralische Überlegenheit betont, der nur sich als mögliches, weil vernünftiges Resultat der Geschichte sieht, der gut funktioniert sowie ökonomisch prosperiert, der über öffentlich-rechtliche Systemmedien verfügt, die seine Grundlagen permanent rühmen, der sich auf dem Fundament einer stabilen politischen Kultur wähnt, gute Gründe, über seine „Selbstvermarktung“ nachzudenken. Denn bei den letzten Landtagswahlen in den ostdeutschen Ländern, konnten die Parteien am rechten und linken Rand beeindruckende Ergebnisse erzielen, in Thüringen errangen sie am 27. Oktober 2019 sogar die absolute Mehrheit.
Sicher, „Bonn ist nicht nicht Weimar“, schließlich sind wir eingebunden, in die EU, in die NATO, und als Exportnation in die ganze Welt, deshalb müssen wir uns mit anderen Nationen politisch wie ökonomisch synchronisieren, was dem Handlungsspielraum für die Gestaltung der Staatsordnung enge Grenzen setzt. Aber wir sind nicht die andere Republik, die Republik mit Republikanern, die als notwendiges Resultat der Geschichte unhintergehbar ist. Auch in der Bundesrepublik Deutschland dürfte eher ein pragmatisches Verhältnis zur Staatsordnung bestehen, ein grundsätzliches dagegen weit weniger, und auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung hat eine Achillesferse. Denn die anstrengende Freiheit, die zeitaufwendige Demokratie und der kraftlose Rechtsstaat, der sich gegenüber dem „Bösen“ selbst beschränkt, sind nicht nur konstituierende Elemente unseres Gemeinwesens, sondern zugleich auch destabilisierende. Der damit einhergehenden Tendenz zur partiellen Selbstauflösung lässt sich nur mit einer komplexen Argumentation begegnen, die wahrscheinlich nur wenige zur Kenntnis nehmen. Deshalb agieren Politiker und Staatsanwälte oftmals populistisch, zu Ungunsten des Rechtsstaats, und deshalb sind Freiheit als auch Demokratie in vielen Räumen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung kaum vorhanden, man denke nur an Schulen oder Unternehmen. Dies zeigt ein Misstrauen gegen die Grundfesten dieser Staatsordnung und somit auch ihre Fragilität.
3. Schlussfolgerungen
Der Topos von der Weimarer Republik als einer Republik ohne Republikaner ist nicht plausibel, doch noch schwerer wiegt, dass er den Blick auf diesen Teil der deutschen Geschichte verschiebt und verengt. Denn:
a. Er macht die Wirkung zur Ursache. In den Jahren zwischen Bismarcks Rücktritt und dem Beginn des Ersten Weltkriegs erreichten die Parteien, die ein parlamentarisches System anstrebten, bei Reichstagswahlen stets die absolute Mehrheit an Wählerstimmen. Das spricht nicht für obrigkeitsstaatlich gesinnte Deutsche. Eine negative Einstellung der Mehrheit war keinesfalls ein Odium, welches die Republik als Erblast zu tragen hatte.
b. Er verdeckt, dass demokratische Rechtsstaaten das Ideal vom freien Individuum vertreten, dessen Freiheiten durch diverse Rechte gegenüber der Staatsgewalt geschützt sind, obgleich der gute Mensch gemeinhin als gebundener Mensch identifiziert wird. Folglich ist bzw. war die partielle Entbindung des Einzelnen für beide deutschen Republiken prekär, auch weil der Bürger im Freiraum nur noch eingeschränkt zivilisierbar ist.
c. Er veranlasst, den Untergang der Weimarer Republik als eine von Beginn an festgelegte Schicksalsfügung aufzufassen. Aber damit glaubt man sich zu früh beim maßgebenden Movens für den raschen Niedergang der ersten Republik. Grundsätzliche Überlegungen, die auch zur kritischen Bezugnahme auf die gegenwärtige politische Ordnung anregen, werden auf diese Weise fast ausgeschlossen.
In deutschen Abituraufgaben wird der Topos gleichwohl noch lange Inhalt sein. Denn dort ist er funktional, weil er als Instrument einer Parteinahme für die Gegenwart taugt, die er auf diese Weise historisch fundiert. Und Geschichtsunterricht soll die Ordnung, von der er selbst Teil ist, als unbedingt berechtigt darstellen. Jede Erkenntnis, die dem widerspricht, ist also dysfunktional und damit in Abiturprüfungen, Klausuren und Klassenarbeiten ungültig. Die in Geschichtslehrbüchern gegebenen Erzählungen sind folglich Fiktion und die in zahlreichen Lehrplänen postulierte Reflexionsfähigkeit der Schüler ist Bigotterie, welche die intellektuelle Seichtheit von Geschichtsunterricht, die notwendigerweise mit seinem engen Rahmen einhergeht, verschleiern soll.
[1] Allgemeine Kriegsbegeisterung ist eine Mär, in: https://www.sueddeutsche.de/politik/erster-weltkrieg-die-allgemeine-kriegsbegeisterung-ist-eine-maer-1.2075802
[2] Lösungsvorschlag zur Aufgabe 2.2 der Abiturprüfung Geschichte, Sachsen, 2009, Nachtermin, Aufgabe A, in: Abitur 2010, Prüfungsaufgaben mit Lösungen, Geschichte, Grund- und Leistungskurs Gymnasium Sachsen, Stark Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG 2009
[3] Eberhard Jäckel: Das deutsche Jahrhundert, S.175 f.
[4] Jäckel, S.113
[5] https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/174168/fraenkels-doppelstaat-und-die-aufarbeitung-des-sed-unrechts