„Es ist böse.“ Mit diesem kurzen Satz empfängt der Hauptkommissar Frank Steier seine Kollegin Conny Mey am Tatort. Nicht mit: „Er ist böse“, obgleich die beiden Kommissare fest von einem männlichen Täter ausgehen. Damit entsprechen sie der Erwartung der Zuschauer, wenn auch nicht den Erkenntnissen am Tatort, an dem weder Sperma noch andere Indizien auf einen männlichen Täter verweisen können, denn am Ende dieser 836. “Tatort”-Folge, mit dem Titel „Es ist böse“, erfahren wir, dass der Täter seine brutale Prostituiertenmorde ganz in Folie eingewickelt vollzog. Der Plot dieses Tatorts beginnt also ambivalent, zum einen mit einer Eindeutigkeit, die auf den zweiten Blick nur vage ist, zum anderen mit der uneindeutigen und titelgebenden Sentenz „Es ist böse“, in der das Subjekt „Es“ den Zuschauer nicht informiert, auf wen oder was die Eigenschaft „böse“ zutrifft, obwohl hier durch die Annahme eines männlichen Delinquenten auch das deutlichere Subjekt „Er“ möglich gewesen wäre. Es ist die Hinterfragung dieser Zwiespältigkeit, welche den Zuschauer auf die Spur zu den Widersprüchen dieses Films bringen kann und zu der Erkenntnis der unverantwortlichen Grundhaltung von diesem, die sich aus einer rein gefälligen Sicht auf das Böse ergibt.
Wo identifiziert dieser “Tatort” nun das Böse? Kurz gesagt: Im „Es“, d.h. in der ungezügelten Verwirklichung des sexuellen Lustprinzips und im „Er“, denn der Plot verweist bei derlei Entgrenzungen nur auf Männer, deren Opfer Frauen sind. Zu nennen sind in diesem Kontext die folgenden Figuren: der Prostituiertenmörder Holger Ritter, der Rechtsanwalt Ehrfeld, welcher seine Frau bestialisch misshandelt und der Vergewaltiger Christian Rusnak. Letzterem schreibt der Drehbuchautor die folgende Aussage über den „Nuttenschlitzer“ in den Mund: „Der tötet, weil er einen Trieb hat, der wird nicht aufhören, genauso wie ich nicht aufhöre, wenn mich keiner stoppt. So ist das!“ Ja, genau, so einfach ist das. Die Welt hat zwei Seiten, auf der einen befinden sich die Menschen mit kontrollierbaren Triebregungen und auf der anderen Seite ein paar wenige Männer, deren sexuell-sadistischer Trieb durch keine zivilisierende Gegenkraft zu bändigen ist. Und diese sind in die Zivilgesellschaft nicht integrierbar, weil ausschließlich destruktiv – ihre Vernichtung folglich notwendig. In ihnen verdichtet sich das Böse so sehr, dass es unübersehbar wird. Die Zuschreibung dieser Eigenschaft muss also bereits hier qua Konsens erfolgen. Dem Publikumserfolg ist dieses Konstrukt wohl dienlich, denn seine Eindeutigkeit erspart anstrengendes Nachdenken und nimmt den Zuschauer scheinbar zweifelsfrei aus der Sphäre des Bösen heraus. Er kann aus einer sicheren Meta-Position seinem Entsetzen Ausdruck geben und seine leicht errungene Selbsterhöhung genießen. Doch es ist gerade diese Zuschauerhaltung, zu der dieser “Tatort” verführt, welche ihn zu einem Teil von jener Kraft werden lässt, die stets das Gute will und das Böse schafft, denn Menschlichkeit, Friede und Mäßigung werden keinesfalls von Selbstzufriedenheit und Borniertheit konstituiert, sondern viel eher von Skepsis und intellektueller Redlichkeit.
“Es ist Böse” gibt wenig Anlass zum Denken, dafür fehlen die irritierenden Impulse, die hierzu herausfordern. Die Handlungen der Kommissarin Conny Mey erscheinen immer gerechtfertigt, so fragwürdig sie auch sind. Sie begeht Hausfriedensbruch, überrascht dabei den Verdächtigen Markus Förster beim Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten, wofür sie sich nicht einmal entschuldigt, sondern vielmehr kundtut, dass dieser des Prostituiertenmordes verdächtig sei, und sie verletzt Rechtsvorschriften bei Verhören. Doch ein Unrechtsbewusstsein begleitet weder sie, noch einen ihrer Kollegen und vermutlich tritt es auch nicht beim Zuschauer zu Tage. Denn immer geben die Rechtsbrüche den Anschein des Gebotes im Kampf gegen das unbeherrschte männliche „Es“. Und noch weitere Faktoren absorbieren eine nachdenkliche Haltung: Diese “Tatort”-Folge hält den Zuschauer auf diese Weise fast durchgehend in affektiver Anspannung und somit in emotionaler Gefangenschaft. Auch stellt sie die beiden Sexualverbrecher Holger Ritter und Christian Rusnak mit einem wenig attraktiven Äußeren dar, welches (scheinbar) mit ihrem verachtenswerten Charakter korrespondiert, der somit über ihre Physiognomie leicht identifizierbar ist. Und die Gegenfigur zu diesen beiden ist Conny Mey. Sie ist weiblich, sexuell attraktiv, selbstbewusst und durchsetzungsfähig. Sie kämpft mit Mut gegen das von Männern angerichtete Grauen, kommt dabei an ihre Grenzen und bleibt dennoch aufrecht. Eine Parteinahme für diese Figur erscheint da genauso unausweichlich wie der Abscheu vor den männlichen Vergewaltigern.
So emotional verfänglich ist der Plot dieses “Tatorts”, wenn man ihm intellektuell nicht widersteht. Doch leistet man diesen Widerstand, dann tun sich rasch Fragen auf. Diese zum Beispiel: Sind nun engagierte und selbstgewisse Polizisten oder das Institut des Rechtsstaats die primäre zivilisierende Gegenkraft? Da Polizisten auch triebgebunden und damit für Willkürlichkeiten ebenso anfällig wie andere Menschen sind, ist es wohl der ausnahmslos bindende Rechtsstaat. Aber dieser erscheint in dieser “Tatort”-Folge eher als Hindernis bei der Bekämpfung des Bösen. Weil er umgangen wird, kann die Frau des Rechtsanwalts Ehrfeld noch gerettet werden und weil er nicht umgangen wird, bleibt der gefährliche Prostituiertenmörder Holger Ritter lange auf freiem Fuß. Der Plot dieses “Tatorts” provoziert also die Annahme, dass es ohne Rechtsstaat eine bessere, weil wirkungsvollere Polizei gäbe. Auch wenn dies in einigen Einzelfällen tatsächlich zutreffen mag, so rechtfertigt es noch keinesfalls den engen und notwendigen Konnex zwischen Polizei und Rechtsstaat zu brechen. Denn Erfahrungen mit Institutionen wie Gefängnissen und Konzentrationslagern zeigen prägnant, welche Folgen aus einem solchen Bruch resultieren. Es entstehen rechtsfreie Räume, in denen im Namen oder im Schutz des Staates furchtbare Verbrechen ausgeübt werden. Und das Böse, dessen Bekämpfung diese Verbrechen legitimieren, wird dabei nicht augenscheinlich, auch weil der zur Konformität willige und fähige Teil der Bevölkerung – genau wie dieser “Tatort” – das Böse nicht in seiner Mitte, sondern am nicht anpassungsbereiten oder nicht anpassungsfähigen Rand der Gesellschaft sehen will. Gerade das ist für ihn funktional, da er durch diesen abgrenzenden Akt sich seiner eigenen moralischen Überlegenheit vergewissern kann, welche ihn zur Machtausübung zwingt, um Anpassungsdruck ausüben zu können. Weil aber durch Macht fundierte Handlungen moralisch prinzipiell prekär sind und die eigene moralisch überlegene Position gefährden könnten, benötigt er das möglichst eindeutig als böse oder gefährlich etikettierte und marginalisierte Objekt seiner machtvollen Handlung, um zu rechtfertigen, dass er dessen Willen letztendlich auch mit Zwangsmitteln und Gewalt unterdrückt.
Zugegeben: In „Es ist böse“ erscheint dieser Mechanismus zweckmäßig. Der Film ist – wie weiter oben bereits beschrieben – daraufhin konstruiert. Jenseits dieser so entworfenen Konstellation kann jener Mechanismus aber auch ausgesprochen dysfunktional wirken, manchmal sogar dergestalt, dass das Urteil über gut und böse im Nachhinein korrigiert werden muss. So konnte der Kabarettist Willi Schaeffer im Jahr 1936 durchaus mit Beifall rechnen, als er im Fernsehen goutierte, dass Querpfeifern in Konzertlagern die Flötentöne beigebracht werden, bis sie sich an eine taktvolle Mitarbeit gewöhnt haben; im Jahr 2001 indes ist seiner in Berlin liegenden Ruhestatt der Status eines Ehrengrabes entzogen worden. Sicherlich geschah dies, um seine nationalsozialistische Haltung zu diskreditieren und nicht wegen seiner Einstellung zu Querpfeifern, aber trotzdem wird die Korrektur einer moralischen Qualifikation sichtbar. Da moralische Urteile nicht objektivierbar und immer standpunktbezogen sind, lässt sich folgern, dass ein Großteil moralischer Verdikte Ausdruck historischer Kontingenzen und Entwicklungen ist. Das aber entzieht sich der oberflächlichen Betrachtung, weil bei Werturteilen dieser Umstand zumeist durch einen kategorischen Gültigkeitsanspruch verdeckt wird. Und auf den zweiten Blick ist eine solche Verdeckung auch in dieser “Tatort”- Folge augenfällig, zum Beispiel bei der Hauptkommissarin Conny Mey. Gerade in dem Handeln dieser Figur schimmert das Böse immer wieder durch: sichtbar an ihrem lasziven Outfit, welches Ausdruck für einen alle Kontexte sexualisierenden Exhibitionismus ist, sichtbar bei ihrer Freude an der Demütigung des harmlosen Lüstlings Markus Förster und sichtbar an ihrem laxen Umgang mit den Regeln des Rechtsstaats, dessen Zweck sie nicht verstanden hat und dessen Existenz ihrer Profilierung als unverzichtbare Jägerin von „Sexmonstern“ hinderlich ist.
Sicher: “Sie” ist nicht böse, ihr “Es” bleibt durch ein starkes “Ich” (noch) gebändigt. Aber sie ist signifikant selbst- und gefallsüchtig, letzteres auch sexuell. Auch sie bedarf einer zivilisatorischen Gegenkraft, die sie bändigt. Genauso wie die Verbrecher also, nur in einem geringeren Maß.
Polizist und Verbrecher unterscheiden sich vor allem in drei Punkten: Der eine wird bemächtigt, handelt (scheinbar) altruistisch und kontrolliert, der andere bemächtigt sich selbst, handelt selbstbezogen und ist seinen Trieben ausgeliefert. Und dieser Unterschied wird vor allem durch den Rechtsstaat determiniert, weniger jedoch durch die Konstitution einzelner Persönlichkeiten, was dieser Tatort aber suggeriert. Denn wird ein Rechtsstaat porös, d.h. er verliert seine vollumfängliche Bindungskraft, so geraten selbst Polizisten schnell in den Dunstkreis des Verbrechertums. Auch der temporäre Dispens von rechtsstaatlichen Bestimmungen kann diese Wirkung haben, das Gefangenenlager in der Bucht von Guantanamo ist ein Beispiel hierfür. Polizisten, die für die Lockerung des Rechtsstaats eintreten, um die Effizienz ihrer Arbeit zu erhöhen, führen sich möglicherweise selbst in Versuchung oder in externe Zwänge, die sie moralisch entstellen werden.
Den Rechtsstaat als Komplizen von Schwerverbrechern zu zeigen, deren Ergreifung durch ihn verhindert wird, ist besonders bei einem öffentlich-rechtlichen Sender verantwortungslos.Vielmehr muss ein Rechtsstaat aufgrund der Omnipräsenz des Bösen immer ausnahmslos gelten, hat er Löcher, so ist seine wesentliche Funktion als berechenbare und schützende Gegenkraft amputiert. Kollisionen mit dem „gesunden Rechtsempfinden“ der Bevölkerung und einem eindimensionalen Zweck-Mittel-Denken sind dem Rechtsstaat wesenhaft, ihr Auftreten beweist, dass er gut bei Kräften ist. Und in einer solchen Verfassung kann er die rechtliche Ausgrenzung der Bösen, der Unzulänglichen und der Ungeliebten verhindern. Aber damit stört er die Selbstgerechtigkeit der (mächtigen) Mehrheit, die sich in ihrem auf emotionale Kompensation fußenden Rechtsempfinden oftmals von der Institution des Rechtsstaats behelligt fühlt, was das folgende Diktum der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley treffend zum Ausdruck bringt: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“.
Der hier besprochene “Tatort”-Krimi folgt also einem populären Irrtum, der besagt, dass der Rechtsstaat für diejenigen, die sich im Recht wähnen, ein Handicap darstellt, weil er Verbrechern Rechte verleiht, was diese – zumindest partiell – wieder in das Recht setzt, aus dem sie sich aufgrund ihrer Tat selbst ausgeschlossen haben. Ohne Zweifel ist dieser Irrtum in sich stimmig – also kein Irrtum – wenn man antisozial-destruktives Verhalten, wie in dieser “Tatort”-Folge, lediglich von infantil-selbstbezogenem Handeln herleitet. Der Böse ist hier Triebtäter, genauer: männlicher Triebtäter, der die Konflikte seiner Kindheit nicht lösen konnte und nun qua Regression nicht zu Altruismus, Empathie und Triebbeherrschung fähig ist. Was „Es ist böse“ allerdings verschweigt, ist die andere Seite der Medaille, nämlich die Gefallsucht, welche sich des Mittels einer übermäßigen Konventionalität bedient. In diesem Fall wird die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Person zwar nicht durch illegale Gewalt erzwungen, sondern durch demonstrative Nähe zum Konventionellen und sozial Erwünschten, doch kann auch solch eine Koketterie große antisozial-destruktive Wirkungen entfalten, weil die Existenz von Konventionen immer Macht voraussetzt, welche Verhaltensnormen definiert und Abweichungen bestraft. Es ist die Macht der Gemeinschaft, die sich der destruktiven Selbstermächtigung des Einzelnen entgegenstellt und diese Macht ist an einzelne Subjekte verliehen, von denen jedes einzelne ihrer Verführungskraft ausgesetzt ist, d.h. der Verlockung unterliegt, eher den eigenen Bedürfnissen als denen der Gemeinschaft zu dienen. Nicht umsonst haben Denunzianten und Spitzel einen zweifelhaften Ruf. Doch auch in den Selbsterhaltungsbedürfnissen und Schutzfunktionen einer sozialen Gruppe lässt sich das Gute nicht sicher identifizieren, da zum einen Bedrohungen falsch eingeschätzt und zum anderen von einflussreichen Kreisen aus selbstsüchtigen Absichten zum eigenen Vorteil fingiert werden können. Sein und Schein ist hier mitunter schwer zu unterscheiden, was beispielsweise virulent ist, wenn terroristische Bedrohungen befürchtet werden.
Die Sentenz Friedrich Nietzsches: “Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel” [Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 156] ist somit luzid. Denn im Interesse eines Kollektivs ist der böse Irrsinn leicht zu verdecken, so sogar, dass das “Es” als lustvoll kollektiv Vollzogenes mit der Wertung als Gutes korrespondiert. Als Beispiel lässt sich hier der Beifall während der ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, aber auch viele weitere, im Namen einer Ideologie, von Parteien und Völkern begangene Verbrechen anführen. Die Verachtung der lustmotivierten Einzeltäterschaft bleibt davon unberührt. Das Gaukelspiel mit dieser scheinbaren Evidenz, die sich aus der kollektiven Lust und dem Werteurteil ergibt, ist prägend für jedes Gemeinwesen jenseits des Rechtsstaats.
Menschen wie die Figur des Prostituiertenmörders Holger Ritter wird es wohl immer geben. Seine Zurschaustellung dient vor allem dem Wunsch nach Massenunterhaltung, die stets emotional aufgeladene Themen sucht, um dem Zuschauer Dramatik und ein Skandalon zu bieten. Aber sie erzeugt beim Rezipienten auch eine trügerische moralische Selbstgewissheit, die völlig unbeachtet lässt, dass Menschen in ihrer Entscheidung über gut und böse nicht frei sind, zum einen, weil allen ein “Es” immanent ist und nicht nur wenigen, zum anderen, weil alle – ob ihrer sozialen Existenz – moralisch an Autoritäten gebunden sind, denen sie sich regulär zu unterwerfen haben (Politikern, Polizisten, Psychologen, Offizieren, Lehrern etc.). Und wie weit der Unterwerfungswille auch bei unmenschlichen Anweisungen gehen kann, darauf weisen die Milgram-Experimente der 1960er-Jahre hin.
Am Ende dieses “Tatorts” wird – ähnlich wie in Alfred Hitchcocks “Psycho” – das Verhalten des Delinquenten durch einen Psychiater bzw. eine Psychiaterin erklärt. Ritter wird von dieser als eine unfertige und disharmonische Persönlichkeit beschrieben, die unter Alkoholsucht und sexuellen Phantasien mit sadistischer Ausgestaltung leidet. In einem Gespräch mit den beiden Kommissaren und der Psychologin erscheint er als ein völlig deformierter Psychopath, dessen dominante Mutter die Fixierung in einem infantilen bzw. pubertären Stadium herbeigeführt hat. Der sexuelle Sadismus wird bei diesem außergewöhnlichen Individuum somit als notwendige Folge erkennbar, und zwar als die Folge einer misslungenen Enkulturation in die bürgerliche Gesellschaft. Die Zuschauer können das krankhaft Böse nun verstehen, ganz ohne Irritation der bürgerlichen Werte oder der bürgerlichen Diskurse … beides bleibt heil.
Folgendes Resümee lässt sich also ziehen: Dieser „Tatort“ verdichtet das Böse in der Figur eines überdeutlich gezeichneten Psychopathen, was erstens die Illusion einer klaren Unterscheidung von gut und böse nährt, die zu dem dünkelhaften wie verhängnisvollen Anspruch führen kann, von den Bindungen des Rechtsstaats befreit werden zu können, und zweitens zur Verschiebung des Verbrechens in die Krankheit. Die Delikte eines Psychopathen sind dann nicht mehr die Verwirklichung einer Option, sondern das Ergebnis von inneren Zwängen. Die gegenüber ihm von der Gesellschaft ausgeübte Zwangsgewalt ist somit allein schon deshalb gerechtfertigt, weil sie lediglich als zwingend erforderliche Gegenkraft für die inneren Zwänge erscheint und zum Teil in therapeutischer Form praktiziert wird. Unser Selbstverständnis als freie und humane Gesellschaft bleibt folglich unbeschadet, denn wir strafen ja nicht nur, sondern helfen auch mit Heilungsversuchen. Bei einer solchen Blickverengung auf das “kranke Böse” geht allerdings das Bewusstsein über die Omnipräsenz des Bösen wie auch dasjenige über das Verbrechen als diskursive Entscheidung verloren und wir entfernen uns hierdurch von der realen Komplexität des Phänomens, grenzen uns von ihm ab, fühlen uns nicht mehr betroffen, woraus folgt, dass unsere Neigung zur Selbstreflexion schwindet. Und jeder von Psychiatern (willkürlich) als “krankhaft böse” Etikettierte ist dann entmündigt, da ihm (angeblich) eine weitgehend freie Entscheidung unmöglich ist.
Vermutlich wird dem Großteil der Zuschauer dieser “Tatort” Behagen bereiten, denn er ist spannend und führt den Betrachter in intensive Gefühlslagen. Er irritiert keine gegenwärtigen Diskurslagen und seine Figuration folgt dem akzeptierten Muster einer Schwarz-Weiß-Schablone. Dem Blick hinter diese Fassade zeigt sich jedoch nur das Exempel eines engen, selbstbezogenen und fruchtlosen Blickes auf das Böse. Man tut also gut daran, auch hinter die Fassade zu blicken.