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Eine Schülerrebellion als selbstgefällige Fassade der bürgerlichen Gesellschaft – Anmerkungen zu dem Fernsehfilm „Mittlere Reife”

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Kuschelpädagogik, extra weichgespült: In ´Mittlere Reife´ proben Schüler in der ARD den Aufstand. Ein Diskussionsanstoß, der seine Kugeln leider ins Leere trudeln lässt.“ So das Verdikt Beate Strobels in FOCUS Online über einen Spielfilm des Hessischen Rundfunks, in dem fünf zu einem Ethikkurs verdonnerte Problemschüler, Ideen für eine Schule jenseits der etablierten Vorstellungen entwickeln. Bei der Begründung ihrer Kritik lässt aber auch Strobel „ihre Kugeln ins Leere trudeln“, weil sie ihr Urteil schlecht begründet und wesentliche Kontexte übersieht. Natürlich ist ihr zuzustimmen, wenn sie die Forderungen der Schüler als nicht überraschend beschreibt und wenn sie die Botschaft des Films als zu schlicht sowie dessen Grundhaltung als naiv qualifiziert.

Doch reflektiert sie diese Erkenntnis nicht, sie kommt nicht zu einer Erkenntnis über ihre Erkenntnis und bleibt damit das Wesentliche schuldig. Und das Wesentliche ist die Antwort auf diese Frage: Warum sind denn die im Film genannten Forderungen der fünf Schüler so wenig überraschend, so naiv und die Botschaft des Films so schlicht?

Zusammenfassend lässt sich hierauf antworten: weil der Film und seine Protagonisten in sämtlichen Dimensionen in der Konventionalität verharren. Denn mit ihrem Ausbruch stellen die fünf Schüler das System Schule keineswegs infrage. Der in ihrer Befreiungsideologie zum Ausdruck kommende Lernbegriff bleibt herkömmlich und ohne intellektuellen Anspruch, er bezieht sich hauptsächlich auf eine erfolgreiche Lebensbewältigung. Das Anfertigen einer Steuererklärung, die Reparatur eines kaputten Abflusses oder Kenntnisse über ein Computerbetriebssystem wünscht sich eine Schülerin als künftige Lerninhalte und Tim, der Sohn des Direktors, findet, dass Bill Gates alles richtig gemacht hat, der hat nämlich viel Geld verdient und dabei die geilsten Mädchen um sich gehabt. Und ebenso konventionell bleibt ihr Verhältnis zu Autoritäten wie Erich Fromm oder Sokrates. Deren Wissensvorsprung wird nicht bezweifelt, genauso wenig wie der Sinn des Fächersystems, lediglich eine Wahlfreiheit gemäß der Neigung wird in diesem Zusammenhang gefordert. Auch die Lehrerin bleibt in ihrer Rolle, sie sitzt am Pult oder auf einem Tisch bzw. bewegt sich frei im Raum, während die Schüler an ihren Plätzen sitzen, ihre Position ist von derjenigen der Schüler deutlich unterscheidbar. Genauso zeigt die Forderung nach einem Schülerparlament Übereinstimmung mit gesellschaftlich eingeforderten Werthaltungen. Zwar geht man mit altbackenen Forderungen wie die Abschaffung der Noten und eine Schülermitbestimmung bei den Lerninhalten an die Grenze des bürgerlichen Schulbegriffs, dies allerdings ohne die hier notwendige kritische Reflektion, da eine solche die gegenseitige Bestätigung des „eigenen Standpunkts“ wohl bedrohlich gestört hätte. Und gerade diese wechselseitige Affirmation der Gruppenindividuen und die davon ausgehende Selbstaffirmation des rebellierenden Kollektivs schaffen die Voraussetzung für die angestrebte Vermassung der eigenen Bewegung, weil die per Internet bekanntgegebene Aufforderung, sich den widersetzlichen Postulaten anzuschließen, nur mit der so erzeugten Selbsterhöhung den im Film gezeigten Erfolg haben kann. Hier ergibt sich ein überlegener Standpunkt also nicht aus dem Inhalt der aufgestellten Forderungen, die deshalb auch kaum innerhalb der revoltierenden Gruppe Diskussionsgegenstand sind, sondern aus dem Akt der Synchronisierung und Selbsterhöhung. Die unreife Befreiungsideologie ist innerhalb dessen nur Vehikel und an grundsätzlichen Veränderungen gar nicht interessiert. Nur für die Erzeugung einer guten Aufbruchstimmung ist sie wesentlich, an die sich der Zuschauer dann mühelos andocken kann, weil das im Film gezeigte Aufbegehren nicht wirklich mit dem konventionellen Schulbegriff bricht, sondern vielmehr die Illusion einer behaglichen Schule nährt.

Die konservative Tendenz des Films zeigt sich an einer anderen Stelle aber noch deutlicher. Jeden der fünf aufbegehrenden Schüler hat die Autorin des Buchs, Ariela Bogenberger, mit einer schwierigen Kindheit oder Jugend versehen. Bei Kathi sitzt der Vati im Knast, bei Isabel säuft er, Kausti ist Vollwaise, Alexander ist das Kind russischer Einwanderer und Tim hat ADHS. Hieraus zieht Beate Strobel in ihrer Filmbesprechung nun den folgenden Schluss: „In ´Mittlere Reife´wird aber suggeriert, dass jede Verweigerungshaltung eines Schülers in familiärer Problematik wurzelt.“ Abgesehen von dem Begriff „suggeriert“, den sie nicht argumentiert, ist diese These kognitiv gehaltvoll, wenn man sie nur weiterdenkt, etwa in ihrem Bezug zum Zuschauer oder zum Zweck der Schülerrebellion. Denn der Film nennt zwei Quellen der Revolte: Zum einen die individuellen Defekte der Protagonisten, zum anderen die Defekte des Schulsystems, welches als autoritär, undemokratisch und lebensfremd angeprangert wird.

Welche der beiden Quellen ist nun prinzipiell? Für eine Antwort auf diese Frage kann man sich auf Camus´ „Der Mensch in der Revolte“ beziehen. Dort wird postuliert, dass Revolten ein Akt der individuellen Selbstbehauptung defekter Menschen sind, welche den Quell ihrer Bedrückung im etablierten System suchen (vgl. Camus, S.21). Gleichzeitig bezieht sich die Revolte aber auch auf ein Gut jenseits des individuellen Schicksals, also auf etwas generell Erhaltenswertes (vgl. Camus, S.23). So kommt er folgerichtig zu dem Schluss: „Scheinbar negativ, da sie nichts erschafft, ist die Revolte dennoch zutiefst positiv, da sie offenbart, was im Menschen allezeit zu verteidigen ist.“ (Camus, S.28). Mit den Darlegungen Camus´ lässt sich also das Nebeneinander der beiden Quellen der Schülerrebellion glaubhaft machen. Es ist anzunehmen, dass ihm zufolge beide Quellen als gleichrangig interpretiert werden sollen, weil sie einer Revolte notwendigerweise immanent sind.

Der Schwachpunkt von Camus´ These über den Offenbarungscharakter einer Revolte ist die Unmöglichkeit, das zu finden, was jenseits des Kulturspezifischen „im Menschen allezeit zu verteidigen ist.“ Partizipation und Freiheit des Individuums sind Werte, die in der westlichen Kultur durchaus als allezeit verteidigungswert erscheinen, in anderen Kulturen, die eher die Rechte der Gemeinschaft betonen, ist das nicht der Fall. Somit ist es also sinnvoll, die Funktion einer Revolte jenseits ihrer konkreten Forderungen und innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu suchen. Denn der bürgerlichen Gesellschaft des Westens ist eines wesenhaft: Sie erlaubt die kritische Distanznahme des Einzelnen im Verhältnis zu anderen Kulturen relativ weitgehend und klassifiziert Abweichungen von ihrer Ordnung nicht per se als Beschädigung des etablierten Kollektivs. Die bürgerliche Gesellschaft bedarf also der offenen Ablehnung ihrer Ordnung, um diese als externe Determinante wahrnehmen zu können und nicht weitgehend zu internalisieren. Diesseits ihres eigentlichen Rahmens ist die bürgerliche Ordnung fast immer begründungsbedürftig, fast immer relativ zu Diskurslagen und selten selbstverständlich. Damit entgeht sie dem Erstarrungs- und Verdummungseffekt von Ordnungen recht erfolgreich und bleibt offen für Entwicklungen und Veränderungen.

Der Umstand, dass die im Film genannten Forderungen der fünf Schüler so wenig überraschend, so naiv sind und die Botschaft des Plots so schlicht ausfällt, ist aus dieser Perspektive nicht erheblich. Die den „Rebellen“ zugeschriebene schwere Kindheit entlarvt ihre Forderungen ohnehin als überwiegend individuell motiviert und selbst wenn man dem nicht zustimmt, muss man wohl einräumen, dass sie eine konservative Tendenz haben und das bestehende Schulsystem nicht grundsätzlich in Frage stellen. Denn weit entfernt sich Schule nie von ihrem Wesen, wer auch immer sie neu denken und neu gestalten will, der gerät schnell an Grenzen, deren Überschreitung die notwendigen Funktionen von Schule als Ort der Einhegung gefährden. Doch Schule eignet sich als stimmungsvolle Fassade, vor der die bürgerliche Gesellschaft ihre (bigotte) Toleranz gegenüber Kritikern und Abweichlern als Akt der stabilisierenden Selbstdefinition öffentlich inszenieren kann. Allein darum geht es in diesem Film. Und der ganze Rest ist eben nur Fassade.

 

Literaturverzeichnis

Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 2009 (27. Auflage).

Gehringer, Thomas: Hört uns zu!, auf: http://www.tagesspiegel.de/medien/sozialdrama-hoert-uns-zu/7149426.html, zugegriffen am 2.10.2012.

Strobel, Beate: Filmflop – ARD bekommt Problem-Pennäler nicht in den Griff, auf: http://www.focus.de/kultur/kino_tv/focus-fernsehclub/tv-kolumne-mittlere-reife-sternenjaeger-im-stuhlkreis_aid_819551.html, zugegriffen am 3.10.2012.