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Die neue Ostpolitik der siebziger Jahre – Erfolgreiche Friedenspolitik oder erfolgloses Appeasement?

Auf einer von Oberstufenschülern häufig besuchten Website wird die folgende Bewertung der Ostpolitik Egon Bahrs und Willy Brandts als Muster für das Geschichtsabitur angeboten:

Die Ostverträge bringen wie die Aussöhnung mit Frankreich und den anderen Westsiegern auch einen Schlussstrich unter den 2. Weltkrieg. Dessen Folgen werden aber nicht überwunden (Teilung Deutschlands, Gebietsverluste im Osten). Der Kalte Krieg ist in Deutschland damit praktisch beendet, eine Zusammenarbeit in Deutschland zum Wohle der Menschen beginnt.“ (1)

Dass in Deutschland der Kalte Krieg durch die Ostverträge in der ersten Hälfte der siebziger Jahre praktisch beendet wurde, kann man wohl nicht behaupten, man denke nur an die heftigen Proteste der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Und das Wohl von Menschen, welche durch Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl eingesperrt sind, ist vermutlich nur ein begrenztes, was die Ereignisse im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung deutlich machen. Zu kritisieren ist aber zuallererst etwas anderes, nämlich die zustimmende Tendenz der Wertung und die Bedeutung, die hier den Ostverträgen zugesprochen wird. Wäre denn die Geschichte der beiden deutschen Staaten nach 1975 so viel anders verlaufen, wenn es die „Neue Ostpolitik“ oder den KSZE-Prozess nicht gegeben hätte? Vielleicht hätte es ein paar menschliche Härten mehr gegeben, vielleicht wäre die DDR ohne die Ostverträge noch etwas stärker in finanzielle Schwierigkeiten geraten, vielleicht hätte der fehlende Gleichschritt mit der Sowjetunion und den Westalliierten zu einigen Verstimmungen geführt. Vereinbarungen zum finanziellen Vorteil des deutschen Arbeiter- und Bauernstaats wären aber vermutlich trotzdem getroffen worden, genauso wie trotzdem die Mauer gefallen wäre mitsamt aller sozialistischen Diktaturen des Ostblocks. Denn entscheidend für deren Untergang war nicht die Außen- und Deutschlandpolitik Willy Brandts, sondern der große ökonomische Erfolg der westdeutschen Republik. Die Ergebnisse des Wirtschaftswunders hatten eben eine große Anziehungskraft, genauso wie es die „Magnettheorie“ Konrad Adenauers prophezeit hatte. Und Gorbatschow war am Ende derjenige, der die Schleusentore öffnete, auch wenn er dies niemals beabsichtigt hatte, es also eine nichtintendierte Handlungsfolge war.

Doch die Wertung von Brandts Ostpolitik auf „klassenarbeiten.de“ geht nicht nur inhaltlich fehl. Sie ist obendrein belanglos, denn aufgrund des Fehlens von jeglicher Abstraktion mangelt es ihr an Grundsätzlichkeit, ohne die eine historische Analyse keine Relevanz erhält. Dabei gaben gerade die Gegner der sozialliberalen Reformpolitik hierfür eine Vorlage. Für sie waren die Ostverträge nämlich Appeasementpolitik, also eine gutgemeinte Politik, die zum Scheitern verurteilt ist. Sicherlich ist es erst einmal ungewöhnlich diesen Begriff auf die Verträge mit dem Ostblock anzuwenden, weil er uns im Kontext mit der Haltung des britischen Premierministers Neville Chamberlain auf der Münchner Konferenz von 1938 geläufig ist. Dennoch ist seine Anwendung auf die Ostpolitik der siebziger Jahre berechtigt, da auch damals gegenüber Diktaturen mit dem Ziel einer Beschwichtigung nachgegeben wurde. Der Unterschied ist nur, dass nicht – wie 1938 – eine Besänftigung gegenüber einer nach außen gerichteten Aggression erreicht werden sollte, sondern gegenüber einer nach innen gerichteten. Denn die Kuba-Krise hatte bereits die Akzeptanz einer Koexistenz beider Supermächte geschaffen, ein aggressives Expansionsstreben wie 1938 durch Hitlerdeutschland war im Mitteleuropa der sechziger und siebziger Jahre nicht mehr existent. Die Appeasementpolitik von Brandt sollte folglich in erster Linie den Bürgern der Ostblockstaaten nützen, vor allem denen in der DDR. Und genau an diesem Punkt scheiterte sie weitgehend, die repressive Politik während der Ära Honecker ist hierfür ein beredtes Zeugnis. Natürlich ist der Erfolg von Appeasementpolitik, die immer innerhalb eines überkomplexen Zusammenhangs steht, nicht sicher bewertbar, aber man kann doch davon ausgehen, dass sie in der großen Mehrzahl der Fälle nicht gelingt. Denn sie ist eine in sich widersprüchliche Strategie, welche einerseits durch Entgegenkommen aufwertet, andererseits durch die Etikettierung als (potentieller) Aggressor degradiert. Erfolgreiche Appeasementpolitik setzt immer voraus, dass das Objekt dieser Strategie das Entgegenkommen als Aufforderung zur Aggressionszurückhaltung wahrnimmt, was natürlich völlig unwahrscheinlich ist, denn ein Staat muss die von ihm nach innen wie nach außen ausgeübte Gewalt als gerechtfertigt betrachten. Dagegen kann man zu Recht einwenden, dass es darauf überhaupt nicht ankommt, sondern vielmehr auf den psychologischen Effekt der Aufwertung, welcher den (potentiellen) Aggressor gefügiger stimmt, vielleicht auch Verbundenheit oder Zuneigung aufkommen lässt. Solche Ergebnisse der Besänftigung hat man aber fast nur in emotional fundierten Beziehungen, wie sie innerhalb von Ehe und Familie üblich sind, die Beziehungen zwischen Staaten unterliegen dagegen dem rationalen Kalkül der Interessendurchsetzung, wo freiwilliges Entgegenkommen eher als Schwäche ausgelegt wird, die den eigenen Standpunkt bestätigt. Und was noch schwerer wiegt: Der zu besänftigende Staat darf sich als solcher gar nicht erkennen, denn dann entstünde ein Bewusstsein seiner Degradierung, welches wohl das Gegenteil einer Beschwichtigung zur Folge hätte.

Bleibt also festzuhalten: An der eigentlichen Motivation für das aggressive Handeln eines Staates kann Appeasementpolitik nur sehr wenig ändern. Sie tat dies weder bei Hitler Ende der dreißiger Jahre noch bei den sozialistischen Diktaturen im ehemaligen Ostblock. Und der Vorteil, den manche Geschichtsschreiber der Appeasementpolitik Neville Chamberlains zuschreiben, nämlich der Zeitgewinn für das noch nicht ausreichend gerüstete Großbritannien, geht nicht auf Appeasementpolitik zurück, sondern auf den Umstand, dass man dem Führer der Deutschen schenkte, was dieser sich durch Gewalt aneignen wollte. Und wahrscheinlich hätte man noch mehr Zeit gewinnen können, wenn man ihm auch noch Polen und Norwegen geschenkt hätte, doch zu besänftigen war Hitler nicht. Die Eroberung von Lebensraum im Osten war für ihn eine unbedingte Notwendigkeit, sie war zentraler Bestandteil seiner Ideologie. Chamberlains „Peace for our time!“ musste also fehlgehen, weil man Hitler unmöglich gegen den Willen Stalins die Sowjetunion schenken konnte. „Peace for our time!“ war eine naive Prognose, die so nach einer kritischen Betrachtung der eigenen politischen Strategie und der Weltanschauung Hitlers wohl nicht verkündet worden wäre. Ähnliches kann man auch über Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ schreiben. Auch diese Prognose, die so etwas wie die Maxime der neuen Ostpolitik war, hat sich weitgehend nicht bewahrheitet und das war erwartbar. Schon in Bahrs berühmter „Tutzinger Rede“ von 1963 ist nicht überzeugend belegt, warum sich durch Annäherung ein Wandel in den Ost-West-Beziehungen ergeben sollte. Zwar steht dort, „…. daß Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zur Zeit dort (gemeint ist die DDR, G.D.) herrschenden verhaßten Regime erreichbar sind.“ (2) Doch wie dieses „verhaßte Regime“ extern zu diesen „Änderungen und Veränderungen“ motiviert werden kann bleibt ein Rätsel, auf eine tiefgründige Analyse dieses Zusammenhangs verzichtet Bahr. Und so kam es wie es kommen musste: Die neue Ostpolitik bescherte Willy Brandt in den Jahren 1973 und 1974 frustrierende Ereignisse, wie die Verdoppelung des Mindestumtauschs bei Besuchen im anderen deutschen Staat, die Nichteinhaltung des Transitabkommens vonseiten der DDR und einen Stasi-Mitarbeiter im Kanzleramt. An Schießbefehl, Mauer, Stacheldraht und Stasimethoden änderte sich bis 1989 fast nichts zum Besseren, eher im Gegenteil. So begann der mit der MfS-Richtlinie 1/76 einsetzende Psychoterror gegen politische Gegner einige Jahre nach den Ostverträgen. Wenn die DDR zu Zugeständnissen bereit war, wie im Falle der Selbstschussanlagen, dann nur für direkte Geldleistungen.

Der Wandel kam letztendlich nicht durch Annäherung, sondern durch die mutige Grenzöffnung der Ungarn und durch einen sowjetischen Staats- und Parteichef, der die Breschnew-Doktrin nicht mehr aufrechterhalten wollte oder konnte. Und er kam wohl auch wegen zahlreicher anderer Dinge, aber eben nicht aufgrund der Ostpolitik der siebziger Jahre. Die Ostverträge waren nur ein „Update“ mit überschaubaren Folgen, im Detail durchaus konstruktiv, in der Wirkung aber stark überschätzt. Vermutlich waren sie noch nicht einmal eine wesentliche Ursache für den Umstand, dass der Kalte Krieg auf deutschem Boden nicht heiß wurde. Denn in ihm standen sich zwei Blöcke gegenüber, deren Bevölkerung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kriegsmüde war und die sich beide nicht sicher sein konnten, von dem Sieg in einem großen Atomkrieg profitieren zu können.

Bleibt nun noch zu klären, warum Brandts Ostpolitik häufig als so grundlegend und so notwendig betrachtet wird, wie das zum Beispiel in der weiter oben zitierten „Abiturhilfe“ der Fall ist. Dort werden ihr Wirkungen zugeschrieben, die nicht fundierbar sind, wie „Schlussstrich unter den 2. Weltkrieg“ oder „eine Zusammenarbeit in Deutschland zum Wohle der Menschen beginnt“. Hauptbeweggrund von Fehlurteilen dieser Art dürfte in erster Linie die Lage des betrachteten Vorgangs sein. Historische Phänomene sehen wir nämlich – meist unbewusst – im Kontext chronologisch benachbarter Ereignisse. Jedoch gründet sich die Kontextbildung nicht nur auf Chronologie, sondern auch auf der Herstellung von (scheinbarer) Konsistenz und (eigenem) Nutzen. So bedingte das Ende des Zweiten Weltkriegs den Zusammenbruch des deutschen Nationalstaats, der aus Gründen geschah, welche den Motiven für die Ostverträge diametral entgegenstehen. Auf der einen Seite Hass und Kriegslust auf der anderen die Suche nach Versöhnung und Frieden. Zieht man in diesen Zusammenhang nun noch die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, dann ergibt sich ein scheinbar logisches Bild: Nach dem Untergang von 1945 wurden durch Brandt und Bahr die außenpolitischen Weichen endgültig in die richtige Richtung gestellt, die Einheit Deutschlands konnte daraufhin nur noch eine Frage der Zeit sein. In dieser Sichtweise ist die deutsche Wiedervereinigung hauptsächlich das Produkt von Einsicht und der aus ihr gewonnenen richtigen Gesinnung. Für die Deutschen ist eine solche Interpretation natürlich sehr schmeichelhaft und verführt mit dieser Eigenschaft zu kritikloser Akzeptanz. Doch bereits die von diesem Kontext isolierte Betrachtung der sozialliberalen Ostpolitik und die damit einhergehende Hinterfragung ihrer Zielstellung, die Egon Bahr lakonisch und präzise als „Wandel durch Annäherung“ formulierte, zeigt weniger Schmeichelhaftes. Die Aufgabe von Distanz zu den Staaten des Warschauer Paktes hat ihr Ziel verfehlt, ja verfehlen müssen, weil sie – wie weiter oben dargelegt – mit widersprüchlichen Prämissen agierte. Und eine solche Politik kann auf keinen Fall eine wichtige Weichenstellung sein, diese hat sich folglich zu einem anderen Zeitpunkt ereignet. Es waren Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, die beide maßgeblich zu einer ökonomischen und sozialen Wirklichkeit beitrugen, gegenüber der das marxistisch-leninistische System nicht mehr begründbar war. Das Legitimationsproblem der „Diktatur des Proletariats“ war fundamental und drängte nach einer Lösung. Auch durch den Nutzen, den die DDR aus der neuen Ostpolitik der siebziger Jahre zog, wie die fast weltweite Anerkennung als Staat und die finanziellen Zuwendungen aus dem Westen, war keine ausreichende Legitimation herstellbar. Die Ostverträge trieben die deutsche Wiedervereinigung nicht voran, sie waren auch keine wirkungsvolle Medizin, welche die Lebenszeit der DDR nennenswert verlängert hat und sie brachten für die Menschen im real existierenden Sozialismus kaum mehr Menschlichkeit und Wohlstand. Aber sie brachten ihren Urhebern und Vertretern einen ehrenvollen Platz in den Geschichtsbüchern und „Abiturhilfen“. Es gilt eben nach wie vor die folgende Sentenz aus den Memoiren des französischen Sonnenkönigs: „Die ganze Kunst der Politik besteht darin, sich der Zeitumstände richtig zu bedienen.“ (3)

(1) http://www.klassenarbeiten.de/oberstufe/leistungskurs/geschichte/ostwestpolitik/neueostpulitik.htm

(2) http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/tutzinger_rede.pdf, S.2

(3) http://www.bk-luebeck.eu/zitate-ludwig.html