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Ein Plädoyer für die Einbeziehung der Historischen Diskursanalyse

1. Vorbemerkung

Populäre Geschichtsschreibung wie auch die Geschichtsschreibung der Schulbücher und des Lehrstoffes sind narrative Akte, die nicht so sehr Reflexionstiefe und intellektuelle Präzision generieren, sondern vor allem vorherrschende Weltbilder, Ideologie, kurz Zivilisationsmythen begründen, organisieren und affirmieren. Die Geschichtsschreibung bedient sich hierfür einer Allüre von Wissenschaftlichkeit, wodurch sie die quasi-mythische Essenz ihrer Behauptungen zu kaschieren versucht. Besonders durch die Unterstellung von klar zu identifizierenden Kausalitäten (man denke an Ursache/Wirkung, Ursache/Anlass etc.) formuliert Geschichtsschreibung eine Plausibilität historischer Phänomene, die genauerer Betrachtung nie standhält, die aber dennoch und gerade dadurch Teil eines zivilisatorischen Glaubensaktes ist.

2. Notwendigkeiten einer Alternative

Vergleicht man Geschichtsschreibung verschiedener Epochen, verschiedener Nationen oder verschiedener Weltanschauungen, so fällt es nicht schwer zu ersehen, dass dieselben historischen Phänomene gänzlich verschieden beurteilt, eingeordnet und begründet werden, dass das Fazit der jeweiligen Analysen schon ganz unabhängig vom eigentlichen Phänomen paradigmatisch determiniert ist. Geschichtsschreibung ist so zunächst Ideologie. Durch die moderne Kausalitätsgläubigkeit, die nahezu sämtliche Bereiche der Moderne und Postmoderne durchzieht, ist es allerdings möglich, ideologisch motivierte Geschichtsschreibung als objektive Wissenschaft erscheinen zu lassen. Dabei aber wird überhaupt nicht gesehen, dass zwar Kausalität zwischen Ereignissen herrschen kann und dass sich eine Abfolge von Ereignissen auch kausal betrachten lässt, diese Betrachtung dann aber vollkommen unzureichend ist. In einer multikomplexen und damit auch multikausalen Welt ist es unmöglich hinreichende Kausalität überhaupt zu identifizieren oder zu begründen, denn defizitäres Wissen schließt Kenntnis aller kausalbestimmenden Faktoren aus. Weder wissen wir meistens etwas von Durchfallerkrankungen oder sexuellen Frustrationen der politisch/historischen Akteure, die jeweilige Entscheidungen beeinflussen, noch können wir andere Unwägbarkeiten historischer Prozesse ausschließen. Die Unterstellung von identifizierbarer Kausalität ist schlichter Ausdruck pseudo-rationaler Borniertheit, die ihre eigene Unwissenheit nicht anerkennt. Hierdurch aber ist jedwede dergestalt daherkommende Analyse schlichtweg Blödsinn.

3. Skizze eines alternativen Analyseverfahrens – Einführung in die Diskursanalyse

Wie beschrieben opfert die populäre Geschichtsschreibung Reflexionstiefe und intellektuelle Redlichkeit auf dem Altar der Jetzt-Bejahung. Dabei bedient sie sich dem Verfahren der Homogenisierung, d.h. sie unterstellt Plausibilität und Widerspruchsfreiheit innerhalb historischer Prozesse zu Gunsten der Illusion von Objektivität und Sinn. Sie tilgt damit Elemente des Paradoxen, des Zufalls oder Unvorhersehbarkeit nachträglich aus.

Wesentlich spannender, interessanter und geistig gewinnbringender ist es jedoch gerade auf diese Elemente bei der historischen Analyse zu setzen. An den Widersprüchen, Paradoxien und offensichtlichen „Zufälligkeiten“ – der Begriff wird noch problematisiert werden – kurz an den Heterogenitäten dessen, was als Geschichte erkennbar ist, läßt sich eine statthafte Analyse entfalten, die befähigt ist, den oben genannten Kritikpunkten zu entgehen.

Geschichtsbetrachtung konstituiert sich durch Themen und Fragestellungen, mit denen das jeweilige historische Phänomen fassbar gemacht werden kann. Solcherlei grundlegende Themen, die in der Veränderung ihrer jeweiligen Konfiguration zwar zeitlich determiniert sind, aber doch in der grundlegenden Bestimmung überzeitlichen Charakter haben, lassen sich als Diskurse bezeichnen. Diskurse sind also Themenzüge, die zum ersten unser Verständnis von Welt und Geschichte bestimmen und zum zweiten erfassbare Strukturen in historischen Prozessen aufzeigen. Essenzielle Diskurse sind so zum Beispiel: Machtdiskurse, Legitimationsdiskurse, Religionsdiskurse, Ideologiediskurse, Sozialdiskurse, Wissenschaftsdiskurse etc. Je nach Lage des zu betrachtenden historischen Phänomens lassen sich diverse Diskurse bestimmen und verschieden gewichten. Meistens offenbaren sich die bestimmenden Diskurse gerade in den Widersprüchen oder Zufälligkeiten innerhalb der Geschichtsschreibung.

Am Beispiel der Kubakrise läßt sich dies kurz exemplifizieren und erläutern: Analysiert man kurz die Ergebnisse der Kubakrise jenseits von ideologischen Verblendungen, so läßt sich dreierlei feststellen: a. Sowohl die Interkontinentalraketen der USA in der Türkei und Italien als auch die der SU in Kuba wurden abgezogen. b. Es wurde eine telefonische Direktverbindung zwischen dem weißen Haus und dem Kreml eingerichtet. c. JFK als Repräsentant der USA gilt als „Sieger“ der Krise.

Bringt man diese drei Ergebnisse mit dem Verlauf der Kubakrise in Beziehung, zeitigen sich erstaunliche Erkenntnisse. Bestand nämlich vor der Kubakrise hinsichtlich der Bedrohungskapazität der beiden Weltmächte ein klares Übergewicht durch die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Türkei und in Italien seitens der USA, ist dies nach der Kubakrise nicht mehr der Fall. Ferner kann es doch nur für das Versagen der geheimdienstlichen und diplomatischen Vorgehensweise sprechen, dass nach der Kubakrise die Möglichkeit einer direkten Kommunikation zwischen Washington und Moskau geschaffen wurde. D.h. also, es bestand die Einsicht der existenzbedrohenden Unberechenbarkeit des eigenen Vorgehens, sowohl was die Strategie der Geheimhaltung anbelangt als auch, was die Einschätzung des jeweiligen Verhandlungspartner angeht.

Dass Kennedy nach Kenntnis der strategischen Veränderungen der Krise wohl schwerlich als „Sieger“ zu identifizieren ist, ist hernach offensichtlich, die Gründe hierfür gleichwohl auch. Sieht man sich den Verlauf des Entscheidungsprozesses während der Kubakrise auf Seiten der USA an, so sind derlei viele Akteure und Interessensvertreter in den Entscheidungsprozess eingebunden gewesen, die eine andere Strategie als die Kennedys präferierten, dass Kennedy nach einer objektiven Erwägung und Bewertung der Ergebnisse deutliche Legitimierungsprobleme bekommen hätte. Kennedy konnte die Hegemonie der USA nicht erhalten, machte dem ideologischen Feind der SU erhebliche Zugeständnisse, konnte die Etablierung eines sozialistischen Staates vor der US-Küste nicht verhindern. Um einer weiteren Konfrontation beider Supermächte dieses Ausmaßes zu entgehen, war es damit nur opportun, Kennedy das absurde Signum des Siegers zuzuschreiben.

Diskursanalytisch läßt sich also das zuletzt beschriebene innerhalb des Legitimationsdiskurses betrachten. Dabei ließe sich vergleichen, wie jeweilige Entscheidungsprozesse sich innerhalb der beiden Lager konstituierten. Ferner ließen sich Motivationslagen der Akteure betrachten. Kennedy als Führer eines demokratischen Landes hat von jeher einen wesentlich höheren Legitimationsdruck als ein Diktator.

Die Eskalation der Krise offenbart eine Verschränkung von Macht- und Kommunikationsdiskursen. Ging es vorerst um die Etablierung militärischer und ideologischer Hegemonie eskalierte die Krise ob eines vollkommen unzureichenden Kommunikationsmodus´. Man kann also zusammenfassen, dass der Machtdiskurs so lange vorherrschend war, wie die Möglichkeit der Durchsetzung seiner Motivation bestand. Als diese Möglichkeit aber nur noch unter Inkaufnahme der eigenen Zerstörung wahrscheinlich war, gewann der Kommunikationsdiskurs an Bedeutung. Die Krise eskalierte durch Nonkommunikation und deeskaltierte durch Kommunikation.

Schon dieser kurze und vollkommen unvollständige Anriss einer Diskursanlyse zeigt, welche Erkenntnisse sich ganz ohne kausalen Firlefanz nur unter Betrachtung des Gegebenen formulieren lassen. Historische Tatsachen sind hier nicht in ihrer scheinkausalen Bedeutung relevant, sondern nur als Diskursträger. Diskurse sind damit geeignet die Strukturen historischer Ereignisse nachzuzeichnen, zu bestimmen und zu erkennen. Widersprüche und Heterogenitäten sind ferner also keine Erkenntnislücken, sondern vielmehr Träger von Diskursverschränkungen, die die Diskurse vornehmlich identifizierbar machen.

4. Vorteile und Möglichkeiten diskursiver Analyse

Zu den unbestreitbaren Vorteilen der Diskursanalyse gehört ihr Plädoyer zu Heterogenität und Unabgeschlossenheit. Diskursanalysen sind nicht endgültig, sondern offen, sie sind nicht statisch, sondern dynamisch. Damit entziehen sie sich ideologischer Vereinnahmung und zivilisatorischer Sinnkreierung. Zum zweiten offenbaren sie nicht bloß Strukturen historischer Phänomene, sondern eben auch Strukturen der Jetztzeit. Insofern man diskursanalytisch die jeweilig vorherrschende Geschichtsschreibung mit ihren mühsamen Herstellungen von Kausalitäten diskursanalytisch betrachtet, offenbaren sich eben nicht bloß intellektuelle Seichtheiten. Vielmehr zeigt sich dort das gesamte Aufgebot identifikatorischer Überzeugungen, die fern jedweder Wertung immer auch Ideologie sind. Historische Diskursanalyse ist somit immer auch Strukturanalyse der Gegenwart, denn Geschichte wird von Gegenwart geschrieben.

Fiete

Ich gehe seit einigen Wochen wieder in die Kirche. Keine Angst, Sie dürfen weiterlesen, ich habe nicht zu Gott gefunden, aber ich mag Kirchenlieder und der Mensch braucht seine Aufgaben. Gestern wurde Fiete getauft, der Sohn einer offensichtlich in ihrem Glücke sehr selbstgewissen Kleinfamilie; Mutter wahrscheinlich berührte Grundschullehrerin, Vater langhaariger Theologiestudent. Fiete sah proper aus und schien an seiner Existenz gerade nicht zu leiden. Das Nervige an Taufgottesdiensten ist die gute Laune. Nicht nur, dass bis zum Vollzug irgendwelche Familienkinder durch die Gänge wuseln oder ihren jeweiligen Bedürfnissen mit Geschrei Nachdruck verleihen, es ist die allgemeine absurde Fröhlichkeit, die zur Flucht treibt.

Ich wiederhole mich ungern, Sie kennen meine Ansichten zur Fortpflanzung: Fiete wird Unmengen an Ressourcen kosten, er wird krank werden, er wird leiden, er wird sterben. Wenn er Glück hat, ist er dazwischen mit einer ähnlichen Ignoranz gesegnet wie seine Eltern und wird zu alledem lächeln, schweigen und ungeschützt vögeln.

Vor mir saß ein gebrechliches Paar. Beide um die 80. Lebenserwartung zusammengerechnet vielleicht noch drei Jahre, davon ein erträgliches. Sie wissen, was Fiete noch nicht weiß und was auch seine Eltern nicht wissen: Dasein ist Frist, aber für sie interessierte sich niemand.

Global gesehen, also nicht christologisch, wobei man sich schon die Frage stellen könnte, wen Gott denn noch alles lieben soll und ob das nicht auch eine weitere Kontingenzerfahrung im Leben bedeutet – wenn Gott jeden liebt (selbst jetzt Fiete), liebt er keinen – wäre das baldige, besser das sofortige Ableben der beiden ein Glücksfall, ebenso das Fietes, seiner Eltern, oder meines. Die Erde müsste jauchzen und frohlocken würde in Anbetracht der überbordenden Biomasse Mensch wenigstens der verschwenderischste und weltverachtentste Teil der Menschheit das Zeitliche segnen. Und das sind wir und Gott wäre sogar anwesend. Ein kollektiver Suizid unter kirchlicher Aufsicht erscheint moralphilosophisch jedenfalls hinnehmbar.

Denkt man die Einlassungen der Fridays-for-future-Bewegung („Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“ Welche Zukunft, Idioten?) zu Ende müsste diese bei der Bewertung der Szenerie zum selben Ergebnis kommen. Nur Tote verbrauchen keine Ressourcen und sie emittieren auch kein CO2. Daher wäre es nur logisch, würden diejenigen, die früher sterben, eben wir sein und nicht die Arbeitssklaven im (Achtung: unschöner Euphemismus) globalen Süden. Leider ist eine derartige Stringenz von Gestalten wie Frau Neubauer nicht zu erwarten und so laden sie lieber Menschen mit modrig riechenden Frisuren unter dem Hinweis der kulturellen Aneignung von Konzerten aus.

Zurück zu Fiete und den Alten. Wem sind wir verpflichtet? Fietes Eltern waren in ihrer Antwort dämlich eindeutig: Nur uns. „Schatz, lass den Gummi weg, andere sind uns egal.“ Sicher ist aber, dass es in ihren Möglichkeiten gelegen hätte, mit den Energien, die sie nun an den frisch getauften Fiete verschwenden, Existenzen zu helfen, die schon längst da sind. Sei es an das alte Paar, den Obdachlosen vor PENNY oder die alleinerziehende Mutter in der Nachbarwohnung. Fiete kann nichts dafür, er ist jetzt „anwesend in der Zeit“. Und irgendwann wird seine Not ähnlich ignoriert werden.

Wem sind wir verpflichtet? Natürlich uns, aber dann dem Nächsten, der schon da ist und dann dem Ferneren und dann dem Fernsten. Leben heißt zu töten. Fiete wird schon allein mit der Herstellung seiner Windeln Menschen, Tiere und Pflanzen auf dem Gewissen haben, er wird, wie wir alle, Schuld haben, selbst wenn er das christlichste Leben führt. Er wird mittelbar an Leid und Zerstörung Anteil haben. Nur weil die Kausalketten etwas länger sind, heißt es ja nicht, dass es keine Kausalität gäbe. So lange wir leben, sind wir darin verstrickt. Die Würde des Menschen ist unantastbar, jedenfalls für uns, jedenfalls noch.

Nach der Taufe wurden auch noch schöne Lieder gesungen, die Kinder waren fort, die Alten trällerten mit. Alles war vergessen.

Prass und Defilee – Bemerkungen zum Tod der Queen

Meine Oma wurde nur 91 Jahre alt. Noch heute, neun Jahre nach ihrem Tod, habe ich den beißenden Uringeruch in der Nase, den sie verströmte, als sie voller Stolz bei den täglichen Verrichtungen trotz Demenz auf der Kloschlüssel saß, während ich mich daneben im Waschbecken erbrach. Zur Beerdigung meiner Oma kamen wenige Menschen, Fernsehsender berichteten nicht und es gab auch keine Idioten, die 30 Stunden lang ausharrten, um für Sekunden ihren Sarg zu sehen.

Anders bei der Queen. Das alte Mädchen, das kommenden Montag sein Staatsbegräbnis hat, eint die Welt in Trauer und Verehrung. Sie verstarb im Alter von 96 Jahren in irgendeinem ihrer Schlösser nach 70 Jahren Regentschaft, in denen sie viel winkte und nichts sagte. Queen Elisabeth II. samt Familie bedeuten 96 Jahre Prass, legitimiert durch die groteske Idee des Gottesgnadentums. Verehrt wird sie interessanterweise wegen ihrer Pflichterfüllung und ihrer Skandallosigkeit.

Betrachtet man die Sachlagen ernsthaft, war ihr ganzes Leben ein Skandal. Sie lebte in Schlössern, wettete auf Pferde, begleitete ihren Mann zur Großwildjagd, sie generierte durch ihren Lebenswandel wahrscheinlich CO2-Emissionen eines afrikanischen Kleinstaates und kassierte Abermillionen an Steuergeldern. Die Queen war das Maximum einer parasitären Existenz. Sie war das Gegenteil dessen, was Aufklärer und Leistungsethiker seit 250 Jahren proklamieren, sie war das zynische Lachen ins Gesicht eines jeden Menschen, der einsam und vergessen im Altenheim vor sich hin krepiert.

Was sich nahezu unisono bei der Berichtserstattung und in der Wahrnehmung der so sehr Berührten zeigt, ist ein in seiner Deutlichkeit nicht nachvollziehbarer Verdrängungssakt, der gleichsam einen perfiden Anforderungskatalog offenbart. Da wird um eine alte Frau getrauert, die bis zuletzt ihre Pflicht erfüllt hätte. Pflichterfüllung, Dienst, Wohlverhalten gelten ganz offenkundig als die Kriterien, die das britische Verheultsein begründen. Abgesehen davon, dass es die Pflicht eines jeden vernunftbegabten Menschen gewesen wäre, mit der Erbmonarchie aufzuräumen, offenbaren diese Attribute deutlich, was von Menschen zu erwarten ist: Schweigsamkeit, Fügsamkeit und wenn es sein muss noch lustige Hüte. Selbstgestaltung, Freiheitsnahme, Reflektiertheit, Mildtätigkeit, Güte spielen keine Rolle. Mit der Queen wird eine Rentnerin verehrt, die leistungslos ihren Job bekam und ihn bis zum Ende nicht abgab. Sie wird gefeiert, weil wir die Alten und Kranken in ihrer Not verachten. Sie war öffentlich rüstig, währenddessen wir die Nicht-Rüstigen verbergen. Sie wird verschwenderisch bestattet, wenn gleichzeitig Tausende Raumpfleger, Arbeiter, Arbeitslose, Rentner bei Sozialbestattungen verscharrt werden.

Es sind nicht die Reflexe der Trauer, die erschüttern; und es sind auch nicht die Verdrängungsanstrengungen, die offensichtlich nötig sind, um das eigene Dasein erträglich zu machen, die mich ergreifen. Es ist die scheinheilige Einhelligkeit in der absurden Überzeugung. Es wäre die Pflicht (!) ernsthafter Journalisten gewesen, auf die Missverhältnisse hinzuweisen. Stattdessen berichtet selbst der Deutschlandfunk in seinen Nachrichten, dass die Prinzen William und Harry für zwölf Minuten am Sarg der Queen stehen werden. Die Frage des Nachrichtenwertes stellt sich gar nicht mehr. Die Lust der kollektiven Selbstverdummung ist ungebrochen. Das ist das Gegenteil von Aufklärung. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist ein in seiner Dämlichkeit immer noch gefangener, der das heuchlerische Leben einer fernen, toten Luxusoma feiert und dabei seinen Nächsten vergisst.

Meine Oma wurde in Königsberg geboren, sie verlor ihren Mann und ihren Sohn im Krieg; sie wurde von Soldaten vergewaltigt, erkrankte an Malaria und Typhus, musste fliehen und war die letzten 25 Jahre ihres Lebens blind. Sie arbeitete bei der Reichsbahn, erzog ihre Tochter, pflegte ihre Mutter und passte auf ihre Enkel auf. Sie starb in keinem Schloss. Für ihre Pflege erhielt sie 800 Euro im Monat. Ihre Bestattung dauerte 40 Minuten und kostete 3000 Euro. Der Deutschlandfunk berichtete nicht.

Schnackseln bei den Royals – Von einer Nachricht, die keine war

William und Kate haben gepimpert! Irgendwann im November, wahrscheinlich nicht das erste und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal. Kate war fruchtbar, Williams Spermien schlugen sich wacker durch ihre vaginalen Gefilde, ein Spermium fand eine Eizelle, die beiden verschmolzen, die Eizelle nistete sich in Kates fortan immer üppiger werdenden Leib ein und schwupps: Kate war geschwängert. Nach 9 Monaten also kam die Folge jenes ungeschützten Novemberaktes zur Welt. Kate gebar einen Sohn, der seit dem 22. Juli wahrscheinlich tatkräftig seine Windeln vollkackt. Die Verwandtschaft freut sich über jenes fürchterlich banales Familienglück und die ganze Welt ist scheinbar mit dabei. (mehr …)

Ordnung und Gewalt

1. Legitimation jenseits von Moral

Daß alle Gewalt vom Volke ausgeht und der Staat als dessen Organisationsform daher das Gewaltmonopol inne hat, ist gleichermaßen plausibel wie problematisch. Gewalt legitimiert sich durch das Volk, ist also an einen Konsens oder eine Mehrheitsentscheidung gebunden, die interessanterweise allerdings niemals erhoben wird. Legitimierte Gewalt findet ihre Legitimation zumeist stillschweigend und selbstverständlich. Dies aber heißt, daß die jeweiligen aktuellen Gewaltanwendungen eventuell zwar legislativ legitimiert sind, aber niemals aktuell-situativ. Die legitimierte Gewaltanwendung ist Gewaltanwendung von Institution und Exekutive. Somit fungiert legitimierte Gewalt in ihrer Anwendung und in ihrer Anwendungsprophezeiung als Beharrungsmovens einer bestehenden Ordnung, die Gewalt gegen sich nicht dulden kann. Das Gewaltmonopol ermöglicht somit Herrschaft einer nicht verhandelten, sondern tradiert-organisierten Ordnung, deren konstitutionelle Grundmomente manifest und nicht hintergehbar sind (mehr …)

Die Macht des Läutzeichens – Anmerkungen zum diktatorischen System Schule

Schule ist ein Apparat permanenten institutionalisierten Zwanges. Nichts von dem, was innerhalb von Schule organisiert ist, findet seine Motivlage jenseits der Durchsetzung von Konformismus und Domestikation. So ist die Schule mitnichten zuvorderst Anstalt der Wissensvermittlung, sondern Anstalt des zivilisatorischen Oktroys. Aus der Perspektive des in seiner Individuation gehemmten Einzelnen müßte die Anstalt Schule, in ihrer grundlegend funktionierenden deindividualisierenden Perfidie, als quasi-diktatorisches System erscheinen, hätte die Selbstverständlichkeit ihrer Existenz sie nicht von dieser Erkenntnis ausgeschlossen. (mehr …)

Die Kollision dreier Ich-Konzepte mit Todesfolge – Anmerkungen zu Richard Strauss´ Oper „Salome“

Es ist die Erotik der Keuschheit, die Salome im Anblick des „kühlen“ und „silbernen“ Mondes besingt. Sie hat das Fest, das Hintergrund dieser zweiten Szene der Oper ist, verlassen, weil sie sich den anzüglichen Blicken des Herodes ausgesetzt sah. (mehr …)

Austauschbarkeit und Dekolleté – Implikationen sexualisierter Alltagsmode

Innerhalb der Semantik der Kleidung bedeutet das Dekolleté Anspruch konformistischer Durchsetzung. Wie Feministen zu Recht artikulierten, entsubjektiviert sich die Trägerin von Push-up-BH und Ausschnitt in der Kommunikation mit Männern durch offensive sexuelle Reizsetzung. Allerdings verkennen Feministen dabei, daß diese Entsubjektivierung durch offensive Reizsetzung für die Frau keineswegs degradierend ist. Das Gegenteil ist der Fall. Das Dekolleté installiert seine Trägerin als machtvolles Zentrum eines teils selbstreferentiellen Kommunikationsverhaltens, das stets das Konforme einfordert. Die Entsubjektivierung qua Dekolleté ist für die Frau ein lukratives Geschehen. (mehr …)

Arnold Böcklins Toteninsel in psychoanalytischer Interpretation

Die Toteninsel (Urversion)

1. Die Bedeutung des Unbewußten

Die Entdeckung des Unbewußten war neben der kopernikanischen Wende, der Philosophie der Aufklärung und der Evolutionstheorie Darwins die letzte und für das vergangene Jahrhundert wirkmächtigste Idee, die die Moderne prägte. Erkenntnisse, daß der Mensch weder Zentrum der Welt, noch außeranimalischen Ursprungs, ja nicht einmal in seinem Bewußtsein autonom ist, bedeuteten einen grundsätzlichen Zweifel an der über Jahrhunderte hin tradierten Selbstverortung des Menschen, der somit nahezu jegliche Gewißheit hinsichtlich menschlichen Denkens und Handelns in Frage stellte. (mehr …)

Bemerkungen zu „ Die Weiße und die Schwarze“ und „Der violette Hut“ von Felix Valloton in Magie des Augenblicks

Die Weiße und die Schwarze
Der violette Hut

Félix Vallotons Bilder waren zweifelsohne die interessantesten der Ausstellung „Magie des Augenblicks“ in der Hallenser Moritzburg.

Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen hier zwei Werke, die die übliche Wahrnehmung unterlaufen und den Titel der Ausstellung „Magie des Augenblicks“ ad absurdum führen. Denn es geht weder um den Begriff der Magie noch den Augenblick. Vielmehr wird dessen Unmöglichkeit problematisiert, seine Reflexionsbedürftigkeit und Determiniertheit. (mehr …)

Edward Snowdens Enthüllungen und das Ende einer Erzählung

Die Demütigungen, die sich mit der Personalie Edward Snowden verbinden, sind multipel. Snowdens Enthüllungen, deren Ende wohl aller Voraussicht nach noch nicht erreicht ist, bedeuten nichts weniger als das Ende einer großen, omnipräsenten okzidentalen Narration. Snowden markiert zwangsläufig eine, um das Wort des Altkanzlers Helmut Kohl zu gebrauchen, „geistig-moralische Wende“. Die westliche Vorzüglichkeit ist passé, der Begriff einer transatlantischen Freundschaft ist als hohle Phrase decodiert, der philosophische Firlefanz von Humanismus und Aufklärung offenbarte sich als bloßes Geschwätz und die Integrität des Rechtsstaates gerann zur bloßen Behauptung. (mehr …)